Grenzwert-Chaos für Lebensmittel nach Fukushima
Japan verschärft Strahlen-Höchstwerte für Lebensmittel – unzureichender Gesundheitsschutz in Deutschland und Europa.
Die Verbraucherorganisation foodwatch kritisiert die widersprüchliche und gesundheitsgefährdende Grenzwertpolitik bei der Strahlenbelastung von Lebensmitteln in Europa. Während Japan nun einen richtigen Schritt vollzieht und die Grenzwerte für radioaktiv belastete Lebensmittel zum 1. April 2012 drastisch verschärft, übernimmt die EU diese neuen Werte zwar für Importe aus Japan – lässt jedoch bei Lebensmitteln aus der EU und den von Tschernobyl betroffenen Regionen ohne Not erheblich höhere Belastungen zu.
Auch ein Jahr nach der Fukushima-Katastrophe hat die EU keine Vorkehrungen für ein Höchstmaß an Lebensmittelsicherheit im Falle eines Atom-Unfalls in Europa getroffen. „Die EU hat ein Grenzwert-Chaos par excellence angerichtet und aus Fukushima nichts gelernt. Auf ein Atomunglück wie in Japan sind Europa und Deutschland völlig ungenügend vorbereitet. Die Menschen wären unverantwortlich hohen Gesundheitsrisiken durch den Verzehr von Nahrungsmitteln ausgesetzt“, warnte foodwatch-Geschäftsführer Thilo Bode.
foodwatch hatte bereits vor Monaten die Grenzwerte in EU und Japan als zu hoch kritisiert, weil sie eine hohe Zahl an Todesfällen tolerieren. Da jede noch so kleine Dosis Strahlung schwere Erkrankungen und genetische Schäden zur Folge haben kann, gibt es keine „sicheren“ Grenzwerte. Die Festsetzung muss daher dem Minimierungsgebot folgen: so niedrig wie möglich, ohne die Lebensmittelversorgung zu gefährden. Japan verschärft zum 1. April seine Cäsium-Grenzwerte von bislang maximal 500 Becquerel/Kilogramm (Bq/kg) auf künftig höchstens 100 Bq/kg. Da die EU ihre Grenzwerte für den Import japanischer Lebensmittel an die in Japan geltenden Limits gekoppelt hat, übernimmt die Europäische Kommission die strengeren Werte.
Jedoch belässt sie die laxeren Höchstgrenzen für Lebensmittel anderer Herkunft und vergrößert so die Widersprüchlichkeit der EU-Strahlengrenzwertpolitik:
- Die EU erlaubt für alle anderen Lebensmittel eine mindestens sechs Mal so hohe Strahlenbelastung (bezogen auf Cäsium) als für japanische Importprodukte. Das Schutzniveau für die europäische Bevölkerung ist damit erheblich niedriger als in Japan. Zudem werden in der EU unterschiedliche Maßstäbe angesetzt: Belastete Lebensmittel aus der Tschernobyl-Region, die die für Japan-Importe geltenden Höchstgrenzen um das Sechsfache überschreiten, dürfen in Europa ganz legal vermarktet werden.
- In den von Tschernobyl betroffenen Staaten Weißrussland und Ukraine gelten zum Teil strengere Grenzwerte als in der EU. Die Folge: Lebensmittel, die dort nicht in den Handel kommen dürfen, können ganz legal von EU-Staaten importiert und hier verkauft werden.
- Die EU hat unterschiedliche Grenzwertregime für den Normal- und den Katastrophenfall. Die Vorkehrungen für ein atomares Unglück in Europa stammen noch aus der Tschernobyl-Zeit und wurden nach Fukushima nicht erneuert. Für solche Notfälle hat die EU die so genannte „Schubladenverordnung“ (VO 3954/87, geändert durch VO 2218/89) vorbereitet. Bei ihrem Inkrafttreten würden nach einem Unglück sogar noch laxere Grenzwerte für die Strahlenbelastung von Lebensmitteln festgesetzt als die derzeit geltenden: Diese erlaubten im Vergleich zu den vom 1. April 2012 an in Japan geltenden Höchstwerten eine 8 Mal so hohe Cäsium-Belastung bei Säuglingsnahrung, eine 20 Mal so hohe Belastung bei Milchprodukten, eine 12,5 Mal so hohe Belastung bei anderen Lebensmitteln und sogar eine 100 Mal so hohe Belastung bei Trinkwasser.
Einheitliches Grenzwertregime
foodwatch forderte die Europäische Kommission auf, einheitliche Grenzwerte für den Normal- wie für den Katastrophenfall und für alle Lebensmittel gleich welcher Herkunft festzulegen. Diese müssen zumindest auf das von April an in Japan geltende Niveau gesenkt werden. „Im Falle eines atomaren Unglücks kann es nicht das Ziel der Grenzwertpolitik sein, möglichst viele Lebensmittel aus den betroffenen Regionen noch für den Handel zuzulassen. Stattdessen müssten alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um die Menschen mit unbelasteter Nahrung aus anderen Regionen zu versorgen“, kritisierte foodwatch-Chef Thilo Bode. „Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass Bürger in der EU im Falle eines Atom-Unglücks weniger geschützt wären als die japanische Bevölkerung.“
Aus Fukushima nichts gelernt
In Japan gelten vom 1. April 2012 an für das Radionuklid Cäsium erheblich strengere Höchstgrenzen als bislang: 50 Bq/kg statt bislang 200 für Milchprodukte, 10 statt bislang 200 Bq/kg für Trinkwasser, 50 Bq/kg für Kinderlebensmittel (neu eingeführt) sowie 100 statt bislang 500 Bq/kg für andere Lebensmittel. Die EU setzt diese schärferen Grenzwerte ebenfalls in Kraft, jedoch nur für japanische Import-Produkte. Für andere Lebensmittel gelten großzügigere Cäsium-Limits: 370 Bq/kg für Säuglingsnahrung und Milchprodukte (das entspricht dem 7,4-Fachen der japanischen Werte) sowie 600 Bq/kg für andere Lebensmittel (das 6-Fache der japanischen Werte). Im Falle eines Atomunglücks könnten die noch laxeren Grenzwerte der „Schubladenverordnung“ in Kraft gesetzt werden – sie liegen bei 400 bis 1250 Bq/kg.
Die japanische Regierung begründete die Grenzwertverschärfung mit der entlarvenden Formulierung, dass zwar schon die bisherigen Limits „Lebensmittelsicherheit gewährleisten“ würden, sie nun jedoch „noch mehr Lebensmittelsicherheit“ erreichen wolle. Damit soll offenbar kaschiert werden, dass es „sichere“ Grenzwerte für die Strahlenbelastung von Lebensmitteln nicht gibt: Auch bei einer nur geringen Ausschöpfung der neuen Höchstgrenzen ist mit Strahlentoten und schweren Krankheiten infolge des Lebensmittelverzehrs zu rechnen.
Einem „Spiegel“-Bericht zufolge geht aus einer noch unveröffentlichten Studie des Bundesamtes für Strahlenschutz hervor, dass Deutschland und die EU auch beim Katastrophenschutz nur mangelhaft auf einen atomaren Unfall in Europa vorbereitet sind.
foodwatch liegen weiterhin keine Informationen vor, dass belastete japanische Lebensmittel in Europa im Handel sind.
Quelle
Verbraucherorganisation foodwatch 2012