Gut durchgekämpft im Krisenjahr
Angesichts der dramatischen Turbulenzen an den Energiemärkten und der Unsicherheiten für Haushalte und Unternehmen kommt Deutschland bisher überraschend gut durch die Krise. Im Jahr 2023 muss die Regierung zeigen, dass die enorme Projekt-Beschleunigung wie beim Erdgas auch bei Wind und Sonne möglich ist. Ein Bericht von Oliver Hummel
Dieses Jahr hat mich einige Nerven gekostet – und das will nach den beiden vorangegangenen Corona-Jahren etwas heißen. Ein kleiner Trost ist dabei, dass es den meisten Kolleginnen/Kollegen und Wettbewerbern genauso gehen dürfte.
Selten zuvor waren die Überraschungen, die die Energie-Bubble auf Trab gehalten haben, so alltagsrelevant für die breite Bevölkerung wie 2022: der russische Überfall auf die Ukraine, die Verringerung und später das komplette Ausbleiben von russischen Gaslieferungen, das Desaster der maroden französischen Atomkraftwerke, das Gezerre um die Gasumlage. Um nur einige zu nennen.
Die von den fossilen Energieträgern verursachte Energiepreiskrise ist in diesen Wintermonaten allgegenwärtig, sie bestimmt die Politik, die Nachrichtenlage und die Gespräche im Familien- und Freundeskreis. Die Bundesregierung nimmt unglaubliche Milliardenbeträge in die Hand, um mit der Strom- und Gaspreisbremse Haushalte und Unternehmen von steigenden Energiekosten zu entlasten.
Anders geht es auch kaum. Mitte August kostete eine Kilowattstunde Strom am Spotmarkt der Leipziger Strombörse kurzfristig einen Euro. Bis zum Herbst 2021 hatte der Preis lange Jahre bei drei bis fünf Cent gelegen.
Auch in diesen Wochen zum Jahresende, in denen nicht mehr wie im Sommer schiere Panik die Preise treibt, kostet Strom im börslichen Großhandel zwischen 30 und 40 Cent pro Kilowattstunde, also gut und gerne das Sechs- bis Zehnfache im Vergleich zum Vorkrisenniveau. Man stelle sich vor, was eine solche Steigerung für andere Produkte bedeuten würde: Der Liter Milch würde zehn Euro, das Brot 30 Euro kosten.
Wir schaffen das – irgendwie dann doch
Angesichts der enormen Preisausschläge an den Energiemärkten und der Unsicherheiten, die Haushalte und Unternehmen im Jahresverlauf belastet haben, bin ich positiv überrascht, wie gut Deutschland bis hierher durch diese Krise gekommen ist.
Die Lage am Arbeitsmarkt ist stabil, die Konjunktur auch einigermaßen. Solarteure und Wärmepumpen-Installateure können sich vor Aufträgen kaum retten, die Gasspeicher sind voll. Es könnte in vielerlei Hinsicht deutlich schlimmer sein.
Und wenn ich daran zurückdenke, dass die Energiebranche bereits zum letzten Jahreswechsel im Ausnahmezustand war, ist dies für mich die eigentliche Überraschung des Jahres: Yes we can. Wir schaffen das – irgendwie dann doch.
Wer hätte gedacht, dass wir in Deutschland in wenigen Monaten Großprojekte umsetzen können, die normalerweise Jahre dauern? Diese Erkenntnis macht mir Mut und lässt mich optimistisch auf das kommende Jahr schauen.
Die Herausforderungen werden aber auch 2023 enorm bleiben. Energiepreisbremse und Gewinnabschöpfung müssen in den ersten Monaten des Jahres umgesetzt werden, mit all den systemseitigen und kommunikativen Aufgaben, die sich daraus ergeben.
Die Preise für Strom und Gas bleiben dabei absehbar auf historisch hohem Niveau, im Großhandel wie auch für die Endkund:innen. Nicht nur zum Erreichen der Klimaziele, auch aus ökonomischen Gründen muss Deutschland daher noch mehr Tempo bei der Energiewende machen.
Dafür muss endlich der Knoten beim Ausbau der Windenergie platzen. Hier brauchen wir einfach einen viel stärkeren Ausbau.
Vorteile der Energiewende müssen bei den Leuten ankommen
Die Photovoltaik ist bereits auf einem deutlich besseren Weg, aber auch dort sind noch Verbesserungen nötig, um beispielsweise die Sektorenkopplung in Quartieren oder andere dezentrale Anwendungen zu erleichtern. Jetzt heißt es für die Regierung, die enorme Geschwindigkeit, mit der der Ausbau der LNG-Infrastruktur vorangetrieben wird, auch bei Wind und Sonne zu ermöglichen.
Nicht zuletzt müssen Politik und Branche die Frage beantworten, wie die niedrigen Stromgestehungskosten der erneuerbaren Energien besser bei den Menschen ankommen können – und Unternehmen wie Naturstrom, die beides direkt verbinden wollen und können, nicht bestraft werden.
Mit dem Strompreisbremsengesetz hat der Gesetzgeber den Stromkund:innen in dieser Hinsicht leider einen Bärendienst erwiesen. Unsere eigenen Naturstrom-Anlagen werden wir aufgrund der gesetzlichen Regelung sehr wahrscheinlich nicht wie geplant preisdämpfend für die Belieferung der Kund:innen einsetzen können. Wir hoffen nun auf eine schnelle Korrekturnovelle, die diesen völlig unverständlichen Nebeneffekt des Gesetzes beseitigt.
Nach einem Jahr, das von energiepolitischen Feuerwehreinsätzen geprägt war, muss der Bundesregierung 2023 das Kunststück gelingen, bei weiterhin hohem Veränderungsdruck planvoller zu agieren. Wenn das gelingt, wird es ein Jahr, in dem die Energiewende in Deutschland noch deutlich mehr Schub aufnimmt. Darauf freue ich mich.
Quelle
Der Bericht wurde von der Redaktion „klimareporter.de“ (Oliver Hummel) 2022 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung (post@klimareporter.de) weiterverbreitet werden! / Zum Jahresende wollte klimareporter.de wissen: Was war Ihre Überraschung des Jahres? Heute: Oliver Hummel, Vorstand beim Öko-Energieversorger Naturstrom.