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Heinrich Böll fehlt uns seit dreißig Jahren

Er fehlt uns nun schon dreißig Jahre, starb am 16. Juli 1985. Heinrich Böll war für mich der lebende Beweis gegen die Hegelsche These, dass Figuren in der Weltgeschichte ersetzbar wären. Ein Kommentar von Rupert Neudeck

Dass der eine stirbt und dann der andere auftaucht. Heinrich Böll ist für die deutsche Öffentlichkeit unersetzbar geblieben. Wie sehnsüchtig haben wir erwartet, ihn noch mal zu sprechen und ihn um Rat zu fragen, als wir mitten in Europa uns plötzlich auf dem Balkan in einem schrecklichen Vernichtungskrieg befanden, dieses Mal umgekehrt als erwartet, einen Vernichtungskrieg von sog. Christlichen Serben gegen muslimische Bosnier. In Sarajevo spitzte sich das zu in den Jahren 1992 bis 1995.

Wie würde er heute uns ein Rufer in der Wüste sein, wenn wir uns abquälen, Menschen, die auf der Flucht sind, abzuwehren und gegen sie zu hetzen und zu schreien? Wie dringlich würden wir seine Stimme brauchen, wenn uns erklärt wird, dass man gegen die letzte Möglichkeit der Flüchtlinge ein rettendes Ufer in Deutschland zu erreichen, mit Marine-militärischer Gewalt vorgeht?

Er hatte uns ermutigt, Anfang Februar 1979 ein Unternehmen zu starten für die Rettung der vietnamesischen Bootsflüchtlinge. Ich werde nie die zwei Sätze vergessen, die er mir sagte auf die Frage, ob das gut ist, wenn wir so etwas vorhaben. „Ja, Neudeck, machen Sie das. Und ich bin dabei.“

Wir hatten in ihm den Patron, den Ratgeber, den Wegweiser nach der schlimmsten Katastrophe, die in deutscher Geschichte von uns Deutschen zu verantworten war. Er gab uns Richtung auf, nicht mehr Vorurteilen gegen andere hinterherzulaufen, nicht im Kampf gegen den Kommunismus und Moskau sich zu erschöpfen, sondern in Diktaturen immer zu wissen, wie viele Menschen da sind, die gerne mit anderen Völkern zu tun haben.

Er wurde unser Ratgeber. Ich war manche Woche zweimal bei ihm in Bornheim Merten, um ihn in dieser oder jener Frage um Rat zu fragen. Wir, Christel Neudeck und ich, waren 1982 der Verzweiflung nahe, als man unser mit 377 Flüchtlingen vollbesetztes Schiff nicht mehr die Garantie geben wollte, damit es in einen Transithafen Puerto Princesa einfahren und diese traumatisierten Menschen für eine Transitzeit in dem philippinischen Lager abgeben konnten, die dann in den nächsten Monaten nach Deutschland geflogen wurden. Er riet uns vom Hungerstreik ab, wir sollten stark und kräftig weiter unsere Stimme gegen diese politischen Machenschaften erheben.

Er wurde einer der ersten und vielleicht wichtigsten Teilhaber der politischen Vision der Umwelt-Verschonung, die sich in Partisanen wie  Herbert Gruhl zu Wort meldeten. Er wurde ein Teilhaber der politischen Partei, die sich damals für die Schonung der Welt und den Schutz der natürlichen Umwelt für uns und die kommenden Generationen einsetzte. Immer wenn es höchste Not war und die Sirenen aufheulten, war er zu einer produktiven Mitarbeit bereit. Als das Schiff blockiert wurde, als linke Fanatiker der alten Vietnambewegung meinten, man solle diese Menschen ersaufen lassen, weil sie nur zur besitzenden Klasse gehörten, weil sie alle irgendwie zur Klasse der „Bordellbesitzer von Saigon-Cholon“ gehören würden, da wurde er ganz gebieterisch. Er habe eine physische Abneigung gegen Selektion, gegen das Wort schon und noch mehr gegen die Wirklichkeit, mit der wir Menschen aussondern als weniger wertvoll. „Ich würde auch Eichmann aus dem Wasser ziehen“, sagte er ohne zu zögern.

Er hat uns eine Menge an Aufgaben hinterlassen, die er uns gestellt hatte, die wir bis heute nicht angefangen haben aufzuarbeiten. Er war ein deutscher Pazifist, was etwas anderes ist, als ein französischer oder polnischer. Er konnte bestimmte Worte nicht mehr benutzen, so sehr litt er unter den monströsen Vergewaltigungen der Nazis mit ihren Kriegen, Kriegs-„Einsätzen“, Massenvernichtungen. Eine deutsche Armee konnte sich der Heinrich Böll schlicht nicht mehr vorstellen, auch keine Rüstungsindustrie, die zum Weltmeister an Rüstungsexporten geworden ist. Gott sei Dank musste er das zu Lebzeiten nicht mehr erfahren. Er konnte sich als geborener und sich nie aufgebender Katholik nicht einverstanden erklären mit einer katholisch-staatlichen Militärseelsorge, wie sie die beiden Kirchen in Deutschland fröhlich institutionalisiert haben. Er hätte sich gefreut (und tut das wahrscheinlich auch), zu hören, dass die deutsche Marine mit ihrer Fregatte und Korvette im Mai 2015 über 800 Flüchtlinge im Mittelmeer gerettet hat. Das hätte er als einen Akt der biblischen Friedenverheißung verstanden: „Schwerter zu Pflugscharen“, denn wenn man militärische Marineschiffe zu Unternehmen der Menschenrettung konvertiert, ist das ein Akt der Umwandlung der Schwerter zu etwas Produktivem. Er hätte sich als Nobelpreisträger stark gemacht für den Nobelpreis für die Italienische Marine, die das Menschheits-geschichtlich größte Menschenrettungsunternehmen mit Mare Nostrum abgeleistet hatte.

Er war fuchsteufelswild gegen Vorurteile gegenüber Menschen, die von woanders herkommen, andere Großmütter und Vorfahren haben. Als es zu Überfällen auf Unterkünfte von Türken in Mölln und in Solingen, in Hünxe und anderen Orten kam, gründeten wir ein Unternehmen, das damals noch nicht richtig durchgeführt wurde. Die Not-Anwälte. Wir haben immer noch nicht verstanden in der großen humanitären Bewegung, dass wir die Rechtskenner, die Juristen, Rechtsanwälte mit gewinnen müssen für unsere Arbeit. Denn überall auf dem Erdkreis und auch in unserem Deutschland warten Menschen darauf, dass sie Ihre Rechte erkennen und ihre Rechte durchsetzen können. Dabei brauchen sie ähnlich viel Hilfe wie bei der Rückeroberung ihrer Gesundheit oder beim Wiederaufbau Ihrer Häuser, Unterkünfte, Hospitäler und Schulen. Wir hatten das erste Experiment noch mit Heinrich Böll durchgeführt. Alarmstationen wollten wir einrichten in einer größeren Gemeinde mit je einem Rechtsanwalt oder Juristen, einem Pfarrer/Priester/Imam, und einem Lokaljournalisten mit einer Telefonnummer, die 24 Stunden anrufbar wäre. Leider ist das Experiment dann wieder eingeschlafen. Ich erlebte jetzt die Wiederauferstehung dieser Idee in der Ost-Ukraine, wo ich eine Gruppe junger Rechts-Studenten traf, die dabei waren, Ihren Mitbürgern Rechtsberatung und Rechts-Schutz zu geben. Dieses Vermächtnis von Heinrich Böll haben wir noch nicht erfüllt.

Es war sein Vermächtnis, denn am 23. Oktober 1984 waren wir vom Komitee Cap Anamur nach Holstebro /Jütland eingeladen. Böll rief vorher an und sagte: „Neudeck, Sie müssen einen Preis annehmen“. Den Preis des weltbekannten Odin-Teatret in Jütland, dass auf Grund Ihres zehnjährigen Bestehens einen Pries begründet hatten, verbunden mit einer Spende, die sich aus einem Fonds ergab, in den die Mitglieder der Truppe ein Prozent ihre Gage abzweigten. Böll wurde gebeten den Preisträger zu finden. Er nannte das Komitee Cap Anamur, und dabei besonders das Projekt „Not-Anwälte (zugunsten schlechtbehandelter und diskriminierter Ausländer). Nie vergessen werde ich diese Szene am Abend in Holstebro am 23.10.1984. Nie waren wir innerlich bewegter als bei dieser Rede von Heinrich Böll zur Würdigung nicht nur von uns, sondern allen humanitären Arbeitern auf der Welt.

Deshalb gilt der Text auch als Magna Charta der Humanitären, die Böll damals sprach:

„Es ist schön, ein hungerndes Kind zu sättigen,
ihm die Tränen zu trocken, ihm die Nase zu putzen,
es ist schön, einen Kranken zu heilen.
Ein Bereich der Ästhetik, den wir noch nicht entdeckt haben, ist die Schönheit des Rechts;
über die Schönheit der Künste, eines Menschen, der Natur – können wir uns immer halbwegs einigen.
Aber – Recht und Gerechtigkeit sind auch schön.
Und sie haben ihre Poesie, wenn sie vollzogen werden.
Tuende, nicht Tätige, möchte ich ehren. Alle diejenigen, die wissen, was es bedeutet, ein Flüchtling, ein Vertriebener zu sein, unwillkommen zu sein.“

Als der Kölner Pfarrer Franz Meurer diese Charta im historischen Rathaus der Stadt Köln jüngst (28.05.15) vortrug, wusste ich innerlich nur eines: Heinrich Böll, Du fehlst uns. Aber wir sollen auch erst die Aufgaben erledigen, die Du uns gestellt hast.

Heinrich Böll „Eine deutsche Erinnerung“ Interview mit René Wintzen – 1. Mai 1991 – online bestellen!

Quelle

Rupert Neudeck 2015 Grünhelme 2015

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