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Indien: Gibt es noch Mädchentötungen?

Da singen und spielen in dem kleinen Dorfkindergarten etwa 40 Kinder – die Mehrzahl von ihnen Mädchen. Das ist ein wunderbarer Erfolg unserer Arbeit in diesen Dörfern in der Nähe von Madurai, im Süden Indiens! Denn hier war vor 10 Jahren die Praxis der Mädchentötung extrem verbreitet. Jeder wusste davon – und jeder schwieg, war doch fast jede Familie betroffen. Ein Bericht von Elvira Greiner

„Schaut mich doch nur an, ich bin eine gebrochene Frau.“, sagt die 26-jährige Murugeswari mit traurigem Blick. Dabei hält sie ihre kleine Ramya schützend im Arm. Ganz quirlig ist die Kleine mit ihren sechs Monaten, fröhlich kräht sie mit kräftiger Stimme. Sie ahnt gar nicht, was es für ihre Mutter bedeutet, ihr junges Leben zu schützen…

Sechs Jahre ist es her, dass Murugeswari verheiratet wurde. Nach einiger Zeit wurde sie schwanger. Als sie ein Mädchen gebar, war die Frustration bei ihrem Mann und den Schwiegereltern groß. Doch es bleib die Hoffnung, dass das zweite Kind ein Junge würde. Der kleinen Keerthana wurde derweil allein von der Mutter Aufmerksamkeit geschenkt. Doch diese Liebe hilft ihr, sich zu einem fröhlichen Kind zu entwickeln, das heute, mit dreieinhalb, strahlend mit seinen Freundinnen im Kindergarten spielt. Keerthana war zu klein um zu verstehen, welches Drama sich vor etwa zwei Jahren in ihrer Familie abgespielt hat.

Ihre Mutter wurde wieder schwanger, brachte wieder ein Mädchen zur Welt. Ehemann und Schwiegereltern waren außer sich vor Wut: „Du hast nur Unglück über unsere Familie gebracht!“, schrieen sie Murugeswari an. Jeden Tag gab es lautes Geschrei, so dass die Nachbarn einschritten und sich beschwerten. Eine von ihnen scheute sich auch nicht, die junge Mutter anzuklagen: „Wie lange willst Du das denn noch aushalten. Du musst endlich etwas unternehmen!“ Was genau sie damit meinte, das sprach sie nicht aus. Auch Mitglieder der Frauengruppe und des Gesundheitskomitees, welche mit Unterstützung der Andheri-Hilfe in ihrem Dorf gegründet worden waren, besuchten sie, boten Hilfe an.

Aber die junge Frau war so verwirrt, dass sie gar nicht wusste, was sie tun sollte. Ihre Kleine war schon etwa drei Monate alt, als die Nachbarin, die sich so sehr über den Zank in ihrer Familie ereiferte, wieder einmal in ihre kleine Hütte kam. Auch ihre Schwiegermutter und ihr Mann waren da. Sie schickten Murugeswari zum Wasser holen. Als sie wiederkam, lag ihr kleines Mädchen tot auf dem Bett. Murugeswari war erst starr vor Schreck, dann schrie sie herzzerreißend. Doch was half es: Ihr kleines Töchterchen war tot. Ungerührt forderte ihr Ehemann sie auf, das Baby so schnell wie möglich hinter dem Haus zu verscharren. Wie betäubt grub sie gleich neben der Wasserstelle ein Loch und legte die kleine Leiche hinein.

Wie oft sie in den Monaten danach an Selbstmord dachte, sie weiß es nicht mehr. Aber sie glaubte, einfach nicht mehr weiterleben zu können. Dass ihr Mann sie nur noch anschrie, das nahm sie kaum wahr. Was sie rettete, das war zum einen ihre Tochter Keerthana, die sie so sehr brauchte und zum anderen die Mitglieder der Frauengruppe. Sie kamen immer wieder und luden Murugeswari zu ihren Treffen ein.

Schließlich ging sie mit und hier hörte sie zum ersten Mal auch andere Frauen über ähnliche furchtbare Erlebnisse sprechen. Fast jede von ihnen kannte diese traumatische Erfahrung. Doch sie belassen es nicht beim Klagen. Gemeinsam kämpfen sie gegen dieses schreckliche Übel: besuchen jede schwangere Frau im Dorf, begrüßen das Neugeborene – wenn es ein Mädchen ist – mit einem Freudenfest, mit zwei Kokospalmsetzlingen und zwei Ziegen als Geschenk: Der Verkaufserlös von Kokosnüssen und Zicklein wird später die Mitgift für das Mädchen bilden.

„Mitgift“ – hier steckt zu recht das Wort „Gift“ drin: Die Mitgiftforderungen an die Familie des Mädchens bei der Hochzeit ruinieren Familien oft für ihr ganzes Leben! Doch hier in den Dörfern um Madurai werden allmählich Veränderungen sichtbar. Die meisten Eltern verzichten inzwischen auf Mitgiftforderungen. Dennoch geben die Eltern ihren Töchtern gerne etwas mit auf den Weg: Sie sollen nicht mit leeren Händen in der neuen Familie ankommen. Doch es ist nicht mehr der enorme Druck dahinter, der Familien finanziell ruiniert.

Außerdem werden im Rahmen des von der Association for Rural Development und Andheri-Hilfe geförderten Projektes Tausende junger Menschen – darunter sehr viele Mädchen – ausgebildet: als Computer-Fachleute und Elektriker, als Krankenschwestern und Kosmetikerinnen usw. So können sie jetzt selbst verdienen – ein wichtiger Anreiz, der die viel zu frühe Verheiratung der Mädchen (früher oft schon mit 13 oder 14) immer seltener werden lässt.

Da sitzen Rajati und ihre alte Schwiegermutter mit uns auf dem Lehmboden ihres kleinen Hauses. Alt wirkt auch Rajati, dabei ist sie vermutlich nicht einmal vierzig. Stockend erzählt sie. Zwei Mädchen haben sie: Roja – sie ist jetzt acht und geht in die 3. Klasse – und Devajani, die mit ihren sechs Jahren gerade in die 1. Klasse geht. Wunderbare, strahlende Mädchen mit glänzenden schwarzen Zöpfen und strahlenden Augen. Die Augen ihrer Mutter strahlen nicht. Und glänzen tun sie höchstens von ihren Tränen.

Eigentlich wäre da zwischen Roja und Devajani noch ein Mädchen: „Sie war so hübsch, meine Kleine. Das schönste Baby, das ich je gesehen haben…“ Ihre Stimme versagt… Es ist immer wieder die gleiche Tragik: Ist das erste Kind ein Mädchen, so bedeutet dies Schimpf und Schande für die junge Mutter. Doch meist wird die Tochter akzeptiert, gibt es schließlich berechtigte Hoffnung, dass das zweite Kind ein Sohn wird. Doch ist das zweite Kind auch ein Mädchen, dann gibt es meist nur eine Lösung… Rajati war völlig verzweifelt, als ihr Mann und ihre Schwiegereltern es ihr verwehrten, ihr Neugeborenes zu stillen. Sie wollten es wohl „eines natürlichen Todes“ sterben lassen. Doch am zweiten Tag wurden sie ungeduldig, warfen die junge Mutter aus der Hütte und als diese sich – mit fast übermenschlichen Kräften – kurz darauf wieder Zutritt verschaffte, war das kleine Mädchen tot.

Rajati hat nie erfahren, was genau geschehen ist. Ihre Schwiegermutter sitzt mit versteinertem Blick da und sagt kein Wort. Wie kann sie mit dieser Schul leben? Sicher, sie glaubte ganz fest, dass es keinen anderen Ausweg gäbe, dass sie dieses kleine Mädchen und ihre Familie nur so vor einem langen, schweren Leidensweg schützen könne. Aber dennoch: Verstehen kann ich es nicht. Aber ich will mir auch kein Urteil anmaßen, bin ich selbst doch nicht in dieser Gesellschaft, unter diesem Druck groß geworden.

Wie Rajati weiterleben kann?

Ihr Blick trifft mich tief im Herzen. Welche Kraft diese so zerbrechlich wirkende Frau doch hat! Als sie wieder schwanger wurde, da verließ sie das Haus ihres Mannes und ging zu ihren eigenen Eltern. Eine gute Entscheidung, denn das Neugeborene war wieder ein Mädchen: Devajani, die heute Sechsjährige. Ihr Mann wollte nichts mehr von ihr wissen, sprach nur schlecht über sie. Doch Rajati war inzwischen Mitglied der Frauengruppe geworden, hatte ihre zwei Kokospalmsetzlinge gepflanzt und versorgte ihre Ziegen. Sie wurde Mitglied des Gesundheitskomitees und beriet schwangere Frauen und junge Mütter im Dorf.

Durch das veränderte Bewusstsein im Dorf, die neue Einstellung zu den Mädchen, geriet Rajati’s Ehemann zunehmend unter Druck: „Was bist Du nur für ein Mann, dass Du Dich nicht um Deine Frau und die beiden wunderbaren Mädchen kümmerst?“ Als Devajani anderthalb war, schaute ihr Vater sie zum ersten Mal richtig an; nahm sie, ihre Schwester und seine Frau mit nach Hause.

Hier sitzen wir jetzt – sieben Jahre, nachdem genau in diesem Raum ein kleines Mädchen ermordet wurde. Für Rajati ist es, als sei es gestern gewesen: „Ich musste mein kleines Baby mit meinen eigenen Händen begraben, gleich hinter unserer Hütte. Ich hab’ einen Stein auf die Stelle gelegt, damit wenigstens niemand auf sie treten kann. Jeden einzelnen Tag meines Lebens, jedes Mal, wenn ich mich wasche oder die Kleider hier wasche, denke ich an mein kleines Mädchen…“ Sie kann die Tränen nicht zurückhalten.

Kein Wunder, dass Frauen wie Rajati die allerbesten Kämpferinnen gegen diese furchtbare Praxis der Mädchentötung sind!

Ich glaub’ es nicht! Da steht Kaandai, diese kräftige ältere Frau mit dunkelbrauner, gegerbter Haut, ihrem weißen Haar und in dem leuchtend pinkfarbenen Sari vor mir und sagt: „Nein, diese Sünde habe ich mir natürlich nicht aufgeladen!“

Was sie meint: Sie arbeitete als traditionelle Geburtshelferin und fast immer, wenn sie half, ein Mädchen auf die Welt zu bringen, dann jammerte und klagte die Familie und bat sie um Hilfe, „dieses Problem zu lösen“. Doch nein, sie habe nie ein Mädchen getötet. Freilich, gewisse Tipps habe sie den Familien schon gegeben. Aber nein, sie habe selbst nie getötet! Es klingt so einfach, so selbstzufrieden.

Ich weiß, ich darf mir nicht anmaßen – und will es auch nicht – über andere Menschen zu richten. Aber es trifft mich doch wie ein Schlag: Wie kann diese Frau, die neues Leben auf die Welt zu bringen hilft, gleichzeitig Hinweise geben, wie dieses Leben wieder getötet werden kann???

Doch auch Kaandai hat durch unser Programm umzudenken gelernt. Heute ist sie eine der aktivsten Vorkämpferinnen für das Recht auf Leben – auch der Mädchen. Wie früher, so betreut sie auch heute noch die schwangeren Frauen. Sie singt uns ein Lied vor, dass sie sonst diesen werdenden Müttern singt: „Oh, Du dunkle Schönheit. Was denkst Du: Ein Mädchen ist keine Last. Du gehst von Tempel zu Tempel und opferst Geld, um einen Sohn zu bekommen. Und wenn Du einen Sohn hast, dann gibst Du viel Geld aus, um ihm die beste Nahrung zu kaufen. Aber für Dein Mädchen suchst Du nach einer giftigen Pflanzenmilch, um es zu töten. Doch wenn ein Junge heiratet, wird er sich nicht mehr um Dich kümmern, wenn Du krank bist. Das wird nur Deine Tochter tun. Kennst Du nicht Mutter Theresa und Indira Gandhi, die – obwohl sie Frauen waren – große Führerinnen wurden?…“

Kaandai ist eine Frau, die im Dorf großen Respekt genießt. Dass gerade sie sich jetzt so für das Leben der Mädchen einsetzt, das hat eine ganz starke, positive Wirkung.

Das ist ein Glück für Banu, mit der wir ein Freudenfest aus Anlass der Geburt ihrer kleinen Tochter Rasira feiern können! Riesig ist die Frauengruppe inzwischen, die sich am Anfang des Dorfes versammelt, um in einer Prozession zu ihrem Haus zu ziehen. Vorneweg die Frau mit den beiden Kokospalmsetzlingen, daneben eine andere mit den beiden Ziegen. Banu, mit der kleinen Rasira auf dem Arm und der dreijährigen Tochter Jesira an der Hand, erwartet uns bereits. Ihr Mann ist nicht da. Gut, er ist bei der Arbeit, wäre aber vermutlich auch sonst nicht erschienen.

Seit das zweite Mädchen geboren ist, spricht er kein Wort mehr mit seiner Frau. Zum Glück hat Banu ihre Schwiegereltern. Früher waren die Schwiegereltern mit die größte Bedrohung für die neugeborenen Mädchen. Aber Banu’s Schwiegermutter ist seit Jahren Mitglied der Frauengruppe und eine aktive Kämpferin für das Leben der Mädchen. So nehmen sie mit Freuden die Geschenke entgegen, pflanzen die Palmsetzlinge hinter dem kleinen Haus und ermutigen Banu, Geduld mit ihrem Sohn zu haben. Es ist nicht leicht für die junge Frau, die Ablehnung ihres Ehemannes zu ertragen, aber immerhin dürfen ihre Töchter leben!

MÄDCHEN DÜRFEN LEBEN!

Das ist noch keine Selbstverständlichkeit, aber jedes Mal neu ein wunderbarer Erfolg unserer gemeinsamen Arbeit in diesen Dörfern! In den letzten 15 Jahren wurden hier nachweislich mehr als 7.000 weibliche Babys vor der Ermordung gerettet. Ich habe die kleine Rasira im Arm gehalten, sehe noch ihre strahlenden, dunklen Augen und die kleinen Händchen, die so kraftvoll meine Finger greifen. Sie ist eines von ihnen ….

Möchten Sie mithelfen, dass Mädchen in den indischen Dörfern leben dürfen dann nutzen Sie die sichere Onlinespende!

Quelle

Elvira Greiner 2012 | 1. VorsitzendeAndheri-Hilfe Bonn e.V. 2012

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