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Japan. Fukushima. Und wir

Keine andere Katastrophe ist vom Moment ihres Eintretens an dermaßen umfassend dokumentiert worden wie die Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze in der japanischen Region Tohoku. Sie gründlich auszuwerten, werde noch lange dauern, meint der Autor. Dennoch sei es Zeit für eine erste Bestandsaufnahme. Rezension von Udo E. Simonis

Es geht Reinhard Zöllner zum einen um eine zeitnahe Schilderung der Ereignisse, wie er und seine Familie sie wahrgenommen haben. Zum anderen interessieren ihn aber die kulturellen und sozialen Hintergründe der Katastrophe und ihre nationale und internationale Wahrnehmung. Diese Kombination der Sichtweise des Problems macht das Buch spannend und lesenswert.

11. März 2011, 14.46 Uhr“ – man nennt es inzwischen das Große Ostjapanische Beben, das die Präfekturen Iwate, Miyagi und Fukushima traf, ein Beben mit einer Momenten-Magnitude von 9,0 von nur zwei bis drei Minuten Dauer. Insgesamt sind rund 22.500 Tote und Vermisste zu beklagen. Mehr als 220.000 Gebäude wurden völlig zerstört oder schwer beschädigt. Den wirtschaftlichen Schaden hat die Regierung auf umgerechnet 150 Mrd. Euro geschätzt.

Die meisten Schäden und Opfer verursachte allerdings nicht das Beben selbst, sondern der Tsunami, der in nur 25 Minuten in mehreren Wellen auf die Ostküste der Insel Honshu traf. Mehr als 90 % der Todesfälle sind auf Ertrinken zurückzuführen. Fast zwei Drittel der Opfer waren 60 Jahre und älter. Mehr als 1.100 Kinder verloren mindestens ein Elternteil. Diese und andere Folgen von Erdbeben und Tsunami werden im ersten Kapitel des Buches an lokalen und regionalen Beispielen exemplifiziert, wobei auch der Frage nachgegangen wird, warum es in Japan so viele Erdbeben gibt (geben muss).

Die Ereignisse in und um das Atomkraftwerk Fukushima – die Explosion, die Kernschmelze, die atomare Verseuchung – konfrontiert Zöllner zunächst mit dem Merksatz, den Rolf Schick einmal formuliert hat: „Erdbeben sind keine Naturkatastrophen!“ Erdbeben sind Naturereignisse. Zu Katastrophen werden sie dann, wenn die Menschen sich nicht richtig auf sie einstellen.

Zur Illustration dieser These zitiert er den Seismologen Ishibashi Katsuhiko, der 1997 in dem Artikel „Die nukleare Erdbebenkatastrophe“ die geltende japanische Sicherheitsphilosophie beim Bau von Atomkraftwerken in Frage gestellt hatte. Zu deren Prämissen gehört, dass solche Kraftwerke nicht über aktiven seismologischen Verwerfungen errichtet würden und dass damit ausgeschlossen sei, dass sie von schweren Erdbeben betroffen werden könnten. Ishibashi lieferte zahlreiche historische Belege für schwerste Beben ohne Zusammenhang mit Verwerfungen, sodass für alle an der Küste zur Japan-See gelegenen Atomkraftwerke mit solchen Erdbeben und folgenden Tsunamis zu rechnen sei.

Seine Folgerung: „Weil man mit Katastrophenschutzmaßnahmen eine nukleare Erdbebenkatastrophe nicht verhindern kann, müssen wir uns grundsätzlich bemühen, von der Atomenergie loszukommen… Dass Japan, das Großreich der Erdbeben, eine große Zahl von Atomkraftwerken betreibt, ist auch gegenüber dem Rest der Welt eine grobe Unverschämtheit“.

In den folgenden Kapiteln analysiert Zöllner die japanische Atomwirtschaft und Atompolitik. Mit deutlichen Worten charakterisiert er die ökonomisch gelenkte Demokratie, die Ideologisierung der Atompolitik (‚Atome für den Frieden’), das Desaster des atomgetriebenen Frachtschiffs Mutsu (‚Japans Fliegender Holländer’), die Rolle der Wiederaufbereitungsanlage in Rokkasho, die dramatischen Unfälle in Tokaimura. Er referiert aber auch die in der japanischen Öffentlichkeit diskutierten Sicherheitsbedenken und die keineswegs seltenen Proteste gegen die Atomkraft, was ihn aber nicht davon abhält, Japan eine mangelhafte Diskussionskultur in Atomfragen vorzuhalten.

Eine Antwort auf die Frage, wie es nun in Japan weiter geht, kann auch Zöllner nicht bieten. Er beschreibt jedoch einzelne erfolgreiche Beispiele einer ‚Energiewende’ – von Wind- und Wasserenergie, Geothermie und Photovoltaik bis zu den Bemühungen um eine Energiespar-Gesellschaft.

Das Buch endet mit einem Kapitel über ‚Vor-Bilder’, einer Betrachtung darüber, wie die Medien uns auf Katastrophen vorbereiten und mit der eingetretenen Katastrophe umgehen. Es ist einerseits ein Rückblick auf frühe Ahnungen vom Untergang Tokios oder ganz Japans, auf traumatische Wiederholungen der Erdbebengeschichte, auf Dealer der Apokalypse. Es ist andererseits aber auch eine Abrechnung mit den Medien in Deutschland, mit Printmedien und Fernsehen, denen der Autor – ein Japanologe – Unwissen über Japan und Schludrigkeit in der Berichterstattung vorwirft.

Selbst die Deutsche Botschaft in Tokio bekommt ihr Fett weg. Auf Hilfe aus der Botschaft zu warten, sei vielfach zwecklos gewesen. Das habe selbst das Technische Hilfswerk erfahren müssen, das nach Eintritt der Katastrophe als eines der ersten Hilfsteams in Japan eintraf, aber auch als erstes unverrichteter Dinge wieder abreiste. Kein Wunder dann, dass sich Botschafter und Mitarbeiter am 17. März von Tokio nach Osaka absetzten. Das taten andere allerdings auch – auch unser Autor mitsamt Familie.

Quelle

Udo E. Simonis 2011Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) 

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