Keinen Krieg gegen Gaza
Hamas und Israel zu Waffenstillstand drängen – Einseitige Schuldzuweisungen sind fehl am Platz.
Die neuerliche Eskalation der Gewalt im israelisch-arabischen Konflikt, insbesondere zwischen dem Hamas-regierten Gazastreifen und der rechtsradikalen Regierung in Tel Aviv, kann leicht in einen größeren Krieg münden, in dessen Verlauf die Menschen im Gazastreifen Opfer der übermächtigen israelischen Militärmaschine würden. Erinnerungen an die Militäroffensive im Dez. 2008/Januar 2009, werden wach. Damals starben über 1.400 Bewohner des Gazastreifens, 65 Prozent von ihnen Zivilpersonen, Tausende wurden verletzt und verloren ihre Häuser und Wohnungen. Auf israelischer Seite wurden 13 Todesopfer gezählt.
Die israelische Regierung, die US-Administration, die hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und die deutsche Bundeskanzlerin haben in diesen Stunden nichts eiligeres zu tun, als die im Gazastreifen regierende Hamas zu verurteilen und der israelischen Regierung ihre Solidarität zu bekunden – verbunden mit der Bitte, sich bei der „Verteidigung“ gegen den Hamas-Terror Zurückhaltung aufzuerlegen. Dieser Politik liegt die Vorstellung zu Grunde, das bedrohte Israel setze sich gegen die „terroristische Gewalt“ zur Wehr. Alle Militärschläge der israelischen Streitkräfte seien Reaktionen auf Gewalt, die von der anderen Seite ausginge.
Die Realität sieht anders aus
Was die aktuelle Entwicklung betrifft, so ist längst nicht ausgemacht, wer den ersten Stein warf und wer nur reagierte. Nach israelischer Lesart begann alles am Samstag, den 10. November: „Die gegenwärtige Krise begann am Samstag, als eine Panzerabwehrrakete aus dem Gazastreifen einen Jeep der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (ZAHAL) traf und vier Soldaten verwundete, zwei von ihnen schwer.“(Information der israelischen Botschaft in Berlin.) Seither flog die Luftwaffe „Angriffe gegen Ziele im Gazastreifen, die als Basis für terroristische Aktivitäten dienen“.
Und erst am Mittwoch, den 14. November, habe Israel die „Operation Wolkensäule begonnen“, in deren Verlauf der Hamas-Militärchef Ahmed al-Dschabari gezielt getötet wurde – was wiederum Hamas dazu veranlasste, die seit dem Vortag bestehende Waffenruhe zu beenden sowie Raketen in Stellung zu bringen und zahlreich auf israelisches Gebiet abzufeuern.
Das Amt der Vereinten Nationen zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten OCHA stellte in ihrem jüngsten Wochenbericht fest, dass die Gewalt schon einige Tage früher datiert. Bereits am 4. November töteten israelische Soldaten einen 23jährigen geistig behinderten Palästinenser; erst zwei Stunden später erlaubte das israelische Militär den Rettungskräften, zum Ort des Geschehens zu kommen – als jede Hilfe zu spät kam.
Und am 8. November drang die israelische Armee wieder im Gazastreifen ein und eröffnete in der Nähe von Khan Younis auf offenem Gelände das Feuer und tötete einen dreizehnjährigen Jungen, der dort spielte. – Der Name der israelischen Operation „Wolkensäule“ dürfte nicht zufällig gewählt sein. Er verweist auf eine Episode aus dem Alten Testament, in der Gott sein auserwähltes Volk vor den Ägyptern rettet. Die israelische Militäraktion zielt offenbar über Hamas hinaus auf die neue Führung in Ägypten, die sich bisher demonstrativ hinter ihre „Brüder“ im Gazastreifen gestellt hat.
Wie so oft in diesem Konflikt lassen sich Aktion und Reaktion, Gewalt und Gegengewalt, Angriff und Verteidigung schwer voneinander abgrenzen. Daher ist eine einseitige Schuldzuweisung an die Adresse der „radikalislamischen“ Hamas fehl am Platz.
In Israel wird derzeit darüber debattiert, wie man mit dem Hamas-Spuk endgültig fertig werden könne. Es scheint, als gewännen die Hardliner um Netanjahu und noch weiter rechts von ihm die Oberhand. Deren Ziel hat in aller Deutlichkeit soeben ein Oberst der Reserve in einem Artikel zum Ausdruck gebracht, der – sicherlich mit Bedacht – im Newsletter der israelischen Botschaft (Datum: 16.11.2012.) verbreitet wurde. In dem Artikel heißt es u.a.:„In den Straßen Gazas laufen blutdürstige Terroristen herum, sie verstecken sich in Kindergärten und Schulen und diktieren einer Million Einwohner Südisraels ihren Tagesablauf. Was kommt als nächstes? Eine Hochzeit im Luftschutzkeller in Ashdod, oder Bar Mitzva-Feiern im Bunker in Beer Sheva? Solche zerstörerischen Kräfte dürfen nicht an unserer südlichen Grenze zu Hause sein, und die Zeit ist gekommen, dass wir sie ein für alle Mal zum Schweigen bringen.“ Und etwas weiter unten wird der Oberst noch deutlicher: „Daher muss Israel der Hamas den Krieg erklären, ihre Führung und ihre Institutionen auslöschen. Israel muss die Hamas endgültig bezwingen.“
Der Bundesausschuss Friedensratschlag sagt ganz klar: Wenn sich solche Meinungen durchsetzen, werden wir demnächst ein fürchterliches Gemetzel im Gazastreifen erleben – mit unübersehbaren Folgen für die ganze Region. Schon jetzt ist deutlich, dass die Zivilbevölkerung am meisten unter den Angriffen leidet: Neben den 30 getöteten Palästinensern (auf israelischer Seite wurden bisher drei Opfer gezählt) wird die Infrastruktur des kleinen Landstriches zerstört. So wurden bisher fünf Trafostationen in Gaza zerstört, wodurch die Stromversorgung für 400.000 Menschen lahmgelegt wurde.
Allen militärischen Optionen in diesem Dauerkonflikt muss eine Absage erteilt werden
Stattdessen muss endlich das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat und auf ein lebenswertes Leben anerkannt werden. Der Chef der UN-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge, Filippo Grandi, hat vor wenigen Tagen seinen Bericht über die Lage vor der UN-Generalversammlung abgegeben. Darin malt er ein düsteres und alarmierendes Szenario insbesondere für die eineinhalb Millionen Menschen im Gazastreifen, die zu 80 Prozent auf Hilfe angewiesen sind, „ökonomisch stranguliert“ werden und deren „frustrierte“ Jugend (weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung) ohne jede Perspektive auf einen Job ist. Die Frustration, so der UN-Repräsentant wörtlich, „nimmt unter der palästinensischen Flüchtlingsbevölkerung zu und reflektiert die sie überwältigende Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung“. (www.unrwa.org; externer Link.)
Filippo Grandi nennt auch die Ursachen: das jahrzehntelange Besatzungsregime, und fordert demnach die Aufhebung der Blockade des Gazastreifens, den Stopp des Siedlungsbaus im Westjordanland und Ostjerusalem, das Ende der Siedlergewalt und der Landenteignungen. Die Verlängerung des jetzigen Zustands sei das Haupthindernis für den Frieden.
In das gleiche Horn stößt die israelische Friedensorganisation Gush Shalom. Deren Stimme mag derzeit marginalisiert erscheinen, sie drückt aber die einzige realistische Perspektive für eine Lösung des Konflikts aus. Im eigenen Interesse, so ihr Credo, müsse Israel auf den Pfad des Friedens, der Gewaltlosigkeit und des internationalen Rechts zurückkehren.
Der Bundesausschuss Friedensratschlag fordert die Bundesregierung auf, ihre bedingungslose Unterstützung der israelischen Politik aufzugeben und mäßigend auf die israelische Regierung einzuwirken. Der israelisch-palästinensische Konflikt muss internationalisiert und zu einer erstrangigen Angelegenheit der Vereinten Nationen werden. Die Friedensbewegung ist aufgerufen, in diesem Sinne die öffentliche Diskussion zu suchen, Veranstaltungen, Informationsstände, Mahnwachen u.ä. zu organisieren.
Quelle
Bundesausschuss Friedensratschlag 2012