Klimaneutral und CO2-frei ist ein Unterschied
Bis zum Jahr 2050 werden wir klimaneutral werden, verkündete die Bundeskanzlerin und wollte damit ihre Klimapolitik auf einen Nenner bringen. Als studierte Naturwissenschaftlerin dürfte ihr dabei klar gewesen sein, dass es einen Unterschied zwischen klimaneutral und CO2-frei gibt. Von Klaus Oberzig
Das thematisierte sie aber nicht. Seither wird der Begriff klimaneutral in den Medien wie auch im privaten Sprachgebrauch häufig verwendet und suggeriert eine klimafreundliche Wirtschaftsweise, sowohl in der Wirtschaft selbst wie auch im privaten Leben. Tatsächlich handelt es sich dabei aber nur um ein Kompensieren, einen bilanziellen Ausgleich und um ein Verschieben auf der Zeitachse. Man könnte es auch so formulieren: da nicht alle Emissionen vermieden werden oder vermieden werden sollen, musste ein Weg erfunden werden, der diese vermeidbaren Emissionen kompensiert.
Da Bäume beispielsweise ein effizienter CO2-Speicher sind, die für ihr Wachstum das Kohlendioxid aus der Atmosphäre ziehen, es in Form von Biomasse speichern und entsprechend Sauerstoff wieder abgeben, eignen sie sich wunderbar als eine Art Gegenpart zu Treibhausgasemissionen. Nicht zufällig gelten die Wälder als die grüne Lunge der Erde. Erfasst man nun die Menge der Emissionen aus der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, Verbrennungsprozessen und Mobilität kann man auf der anderen Seite die entsprechende Anzahl an Bäumen errechnen und pflanzen, die dieses CO2 wieder aufnehmen. Und schon hat man scheinbar eine Art Balance, einen Ausgleich von klimaschädlichen und klimasichernden Vorgängen erreicht. Da CO2 keine Ländergrenzen kennt, ist es egal, wo die jeweiligen Emissionen und ihr Ausgleich stattfinden und wie kompensiert wird. So können neben Waren, Dienstleistungen und Verhaltensweisen gleich ganze Länder „klimaneutral“ gestellt werden.
Dieses Spiel muss nicht auf Bäume und Aufforstung beschränkt bleiben. Es geht z.B. mit Wasserkraftwerken wie auch mit Stilllegungen ehemaliger CO2-Dreckschleudern. Daraus wurde in den vergangenen Jahren ein System von „ökologisch hochwertigen Emissionsreduktionsgutschriften“, sogenannte Emissionsreduktionszertifikaten aus „anerkannten und verifizierten Klimaschutzprojekten“, die es mittlerweise auf der ganzen Welt gibt. Der Emittent „erkauft“ sich gewissermaßen das Recht, weiterhin Emissionen auszustoßen, indem er aktiv und direkt klimaschützende Maßnahmen bezahlt oder zumindest fördert. Das gab es bereits im ausgehenden Mittelalter und wurde Ablasshandel genannt. Einer der darüber bitterböse wurde, war Martin Luther.
Peinliches Beispiel sind heutzutage die Fluglinien, bei denen der Fluggast einen Geldbetrag zur Pflanzung eines oder mehrerer Bäume entrichten kann, damit – bildlich gesprochen – das Abgas aus der Düse von den lieben Bäumchen wieder neutralisiert wird. Das Dumme daran ist nur, dass dieser Prozess erst in 60 bis 70 Jahren zum Tragen kommt. In der aktuellen Situation der Klimakrise hilft dies nicht wirklich. Auch die Deutsche Bahn fährt bereits auf diese Art klimaneutral, indem sie Zertifikate von norwegischen Wasserkraftwerken kauft. Tatsächlich ist die Masse des Stroms, den die ICE, Regionalbahnen und Güterzüge verbrauchen, stinknormaler Kohlestrom, vielleicht auch Gasstrom. Aber als Propagandatrick macht sich das gut. Wirklich CO2-frei fährt kein einziger Zug. Das wird auch nach der CO2-Bepreisung so bleiben, egal wie hoch sie ausfallen wird. CO2-frei werden Prozesse und Verfahren nur durch ordnungsrechtliche Maßnahmen, also die stufenweise Einschränkung der Emissionen bis hin zum endgültigen Verbot.
Der Begriff ist letztlich ein Fake und bildet die Grundlage für ein neues Narrativ, das seit der Adaption durch die Kanzlerin mit viel Propagandaaufwand verbreitet wird. Nahezu die gesamte Politik und Wirtschaft, allen voran natürlich die großen Energiekonzerne, hätten endlich verstanden, auch sie müssten sich „klimakonform“ verhalten. Unter den Schmerzen der erlittenen Verluste der vergangenen Jahre sei nun auch bei RWE und Co. ein Lernprozess angelaufen. Tatsächlich ist es neben dem allgemeinen Hinausschieben der erforderlichen Maßnahmen gegen die Klimakrise der Versuch, in der aktuellen Situation, den Fuel Switch zum Erdgas „klimafreundlich“ zu verkaufen. Die alte Theorie von der Brückentechnologie reicht offensichtlich wohl nicht mehr aus.
Mit dem neuen Narrativ soll dem Publikum vorgegaukelt werden, dass die Klimapolitik nicht so schlecht, bzw. im Einklang mit den Anforderungen der Klimakrise zu sehen sei. Vom Pariser Klimaschutzabkommen redet die Politik nicht mehr. Aktuell geht es um das Kohleausstiegsgesetz, über das gegenwärtig noch gestritten und das wohl erst zu Beginn des kommenden Jahres verabschiedet werden wird. Dabei sind die bekannten Platzhirsche sehr aktiv, neue Pflöcke in alte Löcher einzurammen. Neben Erdgas wird eine Renaissance der Kernkraft betrieben, die „in Zeiten des Klimawandels als notwendiges Übel“ hoffähig gemacht werden soll.
Man sieht, mit dem Begriff der Klimaneutralität lässt sich eine ganze Menge Unheil anrichten. Das reicht von der Rechtfertigung für eine LNG-Infrastruktur, die neue Wasserstoff-Welt, von der inzwischen sogar Energiewendefreunde in glückseliger Trunkenheit schwärmen, bis hin zum Revival der schon tot geglaubten Kernenergie. Hier sei erwähnt, dass sogar die Tageszeitung taz sich diesem Kurs vorsichtig anzunähern scheint. So wird mit dem Narrativ der Klimaneutralität die eigentliche Zielrichtung einer CO2-Freiheit bis 2030 unterlaufen. Dieses notwendige Ziel wird bis in den alltäglichen Sprachgebrauch hinein verdrängt. Es wird eine Nebelwand hochgezogen, die den klaren Blick darauf verhindert, wer auf welcher Seite der Barriere steht.
Quelle
Der Bericht wurde von
der Deutsche Gesellschaft für Sonnenenergie
e.V. (Klaus Oberzig) 2019 verfasst
– der Artikel darf nicht ohne Genehmigung weiterverbreitet werden!
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