‹ Zurück zur Übersicht

© Sonnenseite

Vom Elend der Großprojekte

Franz Alts Rede in Stuttgart gegen „Stuttgart 21“ am 23. Februar 2013: Wir alle sind Zeugen des langsamen Sterbens von Großprojekten in Deutschland. Das war so beim Dahinsiechen des Transrapid und das ist so bei Stuttgart 21 und beim neuen Flughafen in Berlin. Warum ist die Bewegung gegen Stuttgart 21 noch immer so machtvoll, dass die Mächtigen Angst vor uns haben? Weil sich hier viele tausend Menschen nachhaltig informiert und zusammengefunden haben. Und weil wir ein Gespür dafür haben, was menschlichem Maß entspricht und was in menschlichen Größenwahn ausartet.

Für gigantische  Großprojekte werden ganze Landschaften oder Stadtteile platt gemacht. Für gigantische Großprojekte kommt es zu irreparablen ökologischen Schäden, zu einem immensen Energieeinsatz und zu riesigen Schadstoff-Emissionen. Oder es werden unverantwortliche Sicherheitsrisiken wie bei der Atomkraft eingegangen.

Wir sind nicht grundsätzlich gegen Großprojekte. Die Energiewende hin zu 100% erneuerbaren Energien ist ein sinnvolles Großprojekt. Aber dieses sinnvolle Großprojekt wird eher von den Bürgerinnen und Bürgern organisiert als von der Regierung oder von den Großkonzernen. Die Minister Altmaier und Rösler bremsen eher als dass sie die Energiewende vorantreiben. Ein weiteres sinnvolles Großprojekt, Frau Merkel und Herr Gruber,  wäre zum Beispiel die Renaissance der Flächenbahn in ganz Deutschland. Aber es geschieht das Gegenteil: in den letzten Jahrzehnten sind  25.000 Kilometer Schienen stillgelegt und  zwölftausend Bahnhöfe abgerissen worden. Es ist einfach Hybris, wenn eine Großstadt in Mitteleuropa ihre urbane Gepflegtheit mindestens zehn Jahre aufgeben soll – zehn Lebensjahre für eine ganze Generation – nur, damit einige Züge einige Minuten schneller fahren. Freundinnen und Freunde, das ist objektiv Wahnsinn.

Wichtiger als die Großmannssucht von Managern, Technikern und Politikern sind die realen Mobilitätsbedürfnisse aller Menschen. Für Manager und Politiker galt bisher die Devise: Immer schneller und immer größer. Für die meisten Menschen aber gilt: Sicher, mobil, pünktlich, preiswert, bequem. Für 90 % der Menschen dominieren die kurzen und mittleren Entfernungen bis zu 30 Kilometern und nicht die Frage, ob ich einige Minuten schneller von Stuttgart nach München komme. Primäre Aufgabe der Fernbahn ist es, die etwa 1.000 Groß- und Mittelstädte Deutschlands mit einem weit verzweigten Netz vieler eng verknüpfter Hauptstrecken mit einander zu verbinden. Wenn das in der Schweiz klappt oder inzwischen auch in Japan – warum soll eine gut ausgebaute Flächenbahn nicht auch in Deutschland funktionieren?

Die Bahn sagt: Kopfbahnhöfe seien nicht mehr zeitgemäß. Aber seltsamerweise kommen Frankfurt, Leipzig, London, Wien oder Paris mit Kopfbahnhöfen ganz gut zurecht. Nur Stuttgart soll damit überfordert sein. D a s aber ist sehr provinziell gedacht.

Der neue Flughafen in Berlin, die Elbphilharmonie in Hamburg,  Stuttgart 21 hier: Warum müssen alle Großprojekte am Schluss doppelt bis dreimal so teuer werden wie uns am Anfang gesagt wurde? Wegen der Inflation? Wegen steigender Löhne? Jeder der ein Haus baut, rechnet doch diese Mehrkosten immer mit ein. Wenn Kosten so explodieren wie bei Stuttgart 21 oder den anderen genannten Großprojekten, dann kann es dafür nur zwei Gründe geben: Entweder Unfähigkeit der Verantwortlichen oder bewusste Täuschung, also Betrug. Bei Stuttgart 21 riecht es sehr nach Betrug.

Die Wahrheit war das erste Opfer von Stuttgart 21. Großprojekte werden für ihre politische Zustimmung immer kleingerechnet. Aber die Quittung erhalten am Schluss die Steuerzahler. Stuttgart 21 ist ein Verbrechen am deutschen Steuerzahler.

Ich stelle mir folgende Situation vor: Alle Häuslebauer in Schwaben müssten ab sofort doppelt bis dreimal so viel bezahlen wie ursprünglich geplant. Ich bin kein Schwabe – aber ich kann mir gut vorstellen, was hier los wäre! Eine Revolution!  Ich vermute das als nichtschwäbischer Ausländer aus dem Badischen.

Wir, die Bürgerinnen und Bürger, werden künftig bei allen Großprojekten mitrechnen. Und weil wir da unten mitrechnen, müsst ihr da oben viel mehr mit uns rechnen. Ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag der hiesigen grün-roten Landesregierung: „Die Zeiten des Durch-Regierens von oben sind zu Ende. Gute Politik wächst von unten. Echte Führungsstärke entspricht der Bereitschaft zuzuhören. Für uns ist die Einmischung der Bürgerinnen und Bürger eine Bereicherung. Wir wollen mit ihnen im Dialog regieren und eine neue Politik des Gehört-Werdens praktizieren.“ Soweit also der Koalitionsvertrag von Grün-Rot. Lieber Winfried Kretschmann, lieber Nils Schmid und lieber Winfried Hermann: Wir machen etwas ganz Unverschämtes – wir nehmen Euch jetzt einfach beim Wort!

Uns ist im Laufe der Jahre von Stuttgart 21 klar geworden: Der größte Kostensteigerungsfaktor ist die Unwahrheit. Die meisten Großprojekte werden deshalb so teuer, weil sie am Anfang trickreich schöngerechnet werden, um Politik und Öffentlichkeit zu täuschen. Aber wir haben Politiker nicht gewählt, damit sie mit den Größenwahnsinnigen kungeln, sondern damit sie unsere Interessen vertreten. Und wenn sie das nicht mehr tun, dann machen wir es selbst und wählen die Politiker ab. Die Schwarzen haben Jahre lang gelästert, dass die Sozis nicht mit Geld umgehen können. Heute rufen wir den Schwarzen zu: Lernt Ihr endlich mal anständig mit unserem Steuergeld umzugehen.

So wie die Kosten kleingerechnet werden, so werden die Folgekosten der Großprojekte verdrängt, verleugnet oder einfach vergessen.

Inzwischen wissen es alle: Stuttgart 21 ist tot, aber keiner der Verantwortlichen will es offen aussprechen. Auch nicht die Landesregierung. Es wird nur noch der Schwarze-Peter der Schuld hin und her geschoben. Der derzeitige Zustand des Bahnhofs sagt alles über die Chaoten-Pläne der Bahn für Stuttgart 21: Kräne, Rohre, Baugruben, stillstehende Tunnelbohrer, Plastikplanen, ein kahl rasiertes Parkgelände. Es geht nichts vorwärts und nichts rückwärts. Ratlosigkeit überall. Peinlicher geht es nicht mehr.

Stuttgart 21 ist ein einziges Geld-Loch. Das teuerste Loch der Republik. Aber die Bahn will noch immer weitermachen.

Der Bund sagt inzwischen, er sehe keine „ausreichende Grundlage“ für weitere Milliardenausgaben. Am Ende könnte noch viel mehr verschwendet werden als wir heute ahnen. Für die Bahn ist das wirklich ein Debakel, aber es wird von Tag zu Tag größer, solange das Scheitern des Projekts nicht eingestanden wird. Der Imageschaden wird bald so groß sein wie am Berliner Flughafen. Stuttgart 21 ist bis jetzt eine Blamage, aber allmählich wird es für alle Beteiligten zum unkalkulierbaren Risiko. Es gilt endlich zu erkennen: Wenn andere mit einem Kopfbahnhof im 21. Jahrhundert gut leben können, dann gilt das auch für Stuttgart. Der einzig logische Schluss ist ein sofortiger Rückzieher von Stuttgart 21.

Und die Volksabstimmung?  Sie war eine Farce, weil ihr völlig falsche Zahlen zugrunde lagen. Auf der Basis der heutigen offiziellen Zahlen war die Volksabstimmung ein weiterer Betrug.

Als beinahe täglicher Bahnfahrer mit einer Bahncard 100 mache ich der Bahn diesen Vorschlag: Steckt die vielen Milliarden, die ihr bei Stuttgart 21 sparen könnt, so rasch wie möglich in tausende verlotterte Bahnhöfe und in die Infrastruktur einer modernen, wirklich zukunftsfähigen Bürgerbahn. Bürgerbahn statt Größenwahn!

In diesen Tagen war zu lesen: Der Bund drohe mit einem Ende des Projekts. Wir bitten hier und jetzt den Bund: macht Eure Drohung endlich wahr.

Wie viele Jahrzehnte soll es denn noch dauern bis die sogenannten Experten begreifen, was die einfachen Bürgerinnen und Bürger schon lange verstanden haben. Unsere Zeit ist geprägt vom Größenwahn der Großprojekte. Und von einem rastlosen Gigantismus. Was wir aber brauchen ist eine Rückkehr zum menschlichen Maß. Small is beautiful. Ökonomie muss dem Gemeinwohl dienen, nicht der Raffgier und dem Größenwahn weniger. Die Bundeskanzlerin hat in diesen Tagen den starken Satz gesagt: „Stuttgart 21 muss sich aber auch rechnen.“ Frau Bundeskanzlerin: Wenn Sie diese Erkenntnis ernst nehmen, dann hat sich Stuttgart 21 von selbst erledigt.

So wie es möglich war, die einst geplanten Großprojekte Frankfurt 21 und München 21 zu beerdigen, so ist es auch möglich, Stuttgart 21 endgültig zu begraben. Der erste Schritt dazu ist ein sofortiger Baustopp. Wenn Wackersdorf,  Whyl und Brokdorf gestoppt werden konnten, weil der Widerstand und die Kosten zu groß wurden, dann kann auch Stuttgart 21 noch aufgehalten werden. Hinzu kommt, dass die Brandschutzbestimmungen der Stuttgarter Feuerwehr so wenig erfüllt werden können wie am Berliner Flughafen. „Oben bleiben“ heißt die Alternative. Und endlich Schluss mit den Erpressungsversuchen der Deutschen Bahn gegenüber der Stadt und dem Land.

Nur ein Abschied vom alten Verkehrs-Größenwahn macht den Ausstieg aus der irrationalen Stau- und Autogesellschaft möglich. Wir fordern eine intelligente, eine rationale, eine effiziente und eine bezahlbare Verkehrswende. Nur dann wird auch Autofahren eines Tages heilbar.

Quelle

© Franz Alt 2013

Diese Meldung teilen

‹ Zurück zur Übersicht

Das könnte Sie auch interessieren