Was auf der Tagesordnung der EU-Spitzen fehlt …
Mutige Entscheidungen für höhere Klimaziele 2030
Welche Rolle sollte die CO2-Bepreisung in der künftigen Klimapolitik spielen? Sind die Mitgliedsstaaten oder eine EU-weite Politik dafür verantwortlich, das 2030er-Klimaziel zu erreichen? Wohin fließen EU-Hilfen? Eine neue Studie von Agora Energiewende zeigt Handlungsoptionen rund um das EU-Klimapaket „Fit for 55“ auf, die eigentlich auf dem EU-Ratstreffen am 25. März hätten diskutiert werden sollen.
Entgegen der Ankündigung von Dezember 2020 steht die Diskussion über grundlegende politische Entscheidungen zur EU-Klimapolitik nicht auf der Tagesordnung des heutigen EU-Ratstreffens. Dabei plant die Europäische Kommission im Juni ein Gesetzespaket mit dem Titel „Fit for 55“ vorzulegen. Dieses enthält neue und verschärfte Maßnahmen, um das Klimaziel der EU zu erreichen, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. In einem Impulspapier legt Agora Energiewende nun dar, wie ein ehrgeizigeres Klimaziel erreicht werden kann und welche zwei wesentlichen Aspekte dabei im Mittelpunkt stehen sollten: ein effizienter Maßnahmen-Mix und eine gerechte Lastenverteilung.
Zwar hat die EU beschlossen, ihr Klimaziel für das Jahr 2030 auf 55 Prozent zu erhöhen, doch ist sie derzeit weit davon entfernt, dieses Ziel auch zu erreichen: Für 55 Prozent Emissionsminderungen im Jahr 2030 gegenüber 1990 fehlen laut aktuellen Berechnungen der Kommission noch mindestens zehn Prozentpunkte. In allen Wirtschaftsbereichen ist daher schnelles und entschlossenes Handeln erforderlich, um die neue 2030er-Marke zu erreichen und sich auf das nächste Ziel, nämlich Klimaneutralität bis 2050, vorzubereiten. Der neue EU-Haushalt wird einen Teil zur Emissionsreduktion leisten; es bedarf jedoch auch einer Überarbeitung der europäischen Klima- und Energiegesetze.
Ein zentraler Punkt in dieser Debatte ist die Rolle des Emissionshandels, um schnellere und umfassendere Emissionsminderungen bis 2030 zu erreichen. Die Europäische Kommission prüft derzeit, welche Rolle ein EU-weites Emissionshandelssystem für Brennstoffe in den Bereichen Heizung und Verkehr für die Klimazielerreichung spielen könnte – zusätzlich zur Verbesserung bestehender politischer Instrumente der EU, wie etwa CO₂-Standards für Autos. Bislang fallen nur Kraftwerke und die Industrieproduktion unter den Europäischen Emissionshandel. Die Diskussionen um die Ausweitung des Zertifikathandels rufen allerdings erhebliche Bedenken der Zivilgesellschaft, von Industrieverbänden und ärmerer EU-Länder hervor. Grund dafür sind die möglichen Verteilungs- und Wettbewerbsauswirkungen.
In dem Impulspapier von Agora Energiewende mit dem Titel „A ‚Fit for 55‘ package based on environmental integrity and solidarity“ werden vier Optionen für die Regulierung von Heizungs- und Verkehrsemissionen in der neuen EU-Klimapolitik analysiert. Unterstützt wurde Agora Energiewende dabei vom Ecologic Institute. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf den Vor- und Nachteilen den Emissionshandel auf diese Bereiche auszuweiten, gegenüber einer Verschärfung der nationalen Klimaziele im Rahmen der EU-Verordnung zur Lastenteilung – über die bisher die Emissionseinsparungen in den Sektoren, die nicht unter den Emissionshandel fallen, vorgegeben werden.
„Jede Option hat ihre Vor- und Nachteile, von denen einige von zusätzlichen Maßnahmen begleitet werden müssten. Damit das Rahmenwerk umweltpolitisch glaubwürdig ist und die Ziele erreicht werden, müssen die Mitgliedstaaten jedoch klar festlegen, wer für die Emissionsminderung verantwortlich ist und wer haftet, wenn die Ziele nicht erreicht werden“, sagt Dr. Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende. „Diese Themen sind politisch heikel, aber der Europäische Rat darf sich nicht davor scheuen, Entscheidungen zu treffen. Die Zeit drängt: Wir brauchen ein mutiges ‚Fit for 55‘-Paket im Juni dieses Jahres.“
Ein weiterer zentraler Punkt des Agora Impulspapiers ist, dass ein CO₂-Preis zusätzliche Maßnahmen benötigen würde, um sicherzustellen, dass die 2030er-Ziele tatsächlich erreicht werden. Ein CO₂-Preis im Heizungs- und Verkehrssektor könne eine zentrale Rolle in der Emissionsreduktion bei bestehenden Autos und Heizsystemen spielen, die Wirtschaftlichkeit klimafreundlicher Technologien fördern und Einnahmen für grüne Investitionen generieren. Doch um die europäische Wirtschaft in weniger als drei Jahrzehnten zur Klimaneutralität zu führen, seien umfassendere Maßnahmen erforderlich.
„Beim ‚Fit for 55‘-Paket muss es um viel mehr gehen als nur um CO₂-Preise. Um sicherzustellen, dass das Klimaziel von 55 Prozent erreicht wird, müssen die Mitgliedstaaten EU-Politikmaßnahmen wie CO₂-Standards für Fahrzeuge, Bauvorschriften oder Förderprogramme für CO₂-arme Wärmenetze deutlich stärken. Nur dann werden die Verbraucherinnen und Verbraucher die CO₂-armen Optionen zur Auswahl haben, auf die sie bei steigenden Kohlenstoffpreisen umsteigen können“, sagt Graichen.
Um darüber hinaus Fairness zu gewährleisten, müssten die Entscheidungsträgerinnen und -träger nicht nur unterschiedliche Haushaltseinkommen in der EU berücksichtigen, sondern ebenso den unterschiedlichen Grad der Betroffenheit angesichts steigender Kohlenstoffpreise: Ein höherer Heizölpreis hat vergleichsweise größere Auswirkungen auf Länder mit niedrigerem Durchschnittseinkommen, beispielsweise in Osteuropa.
In ähnlicher Weise werden ein höherer CO₂-Preis und die Ausweitung des Emissionshandels auf Heizung und Verkehr eine erhebliche Belastung für Teile der Industrie darstellen. Eine Möglichkeit, die Verteilungseffekte zu minimieren, besteht darin, die Einnahmen aus der CO₂-Bepreisung an die besonders betroffenen Parteien zurück zu verteilen. Zum Beispiel durch Pauschalzahlungen an Haushalte oder gezielte Investitionsförderung für stark betroffene Gruppen und einkommensschwache Mitgliedstaaten.
„Verteilungseffekte sind zwar eine Herausforderung, aber es gibt Ansätze, um sie zu lösen. Dafür sollten 100 Prozent der Einnahmen aus der CO₂-Bepreisung im Wärme- und Verkehrssektor an die Verbraucherinnen und Verbraucher zurückverteilt werden,“ erklärt Graichen. „Die Erreichung des EU-Klimaziels wird nur gelingen, wenn ökologische Verträglichkeit und soziale Gerechtigkeit Hand in Hand gehen, gerade in den Bereichen Gebäude und Verkehr.“