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Aliyahs Flucht: oder Die gefährliche Reise in ein neues Leben

Kulturelle Tragödien. Junge Frauen und Männer sind in Deutschland gezwungen, ein gefährliches Doppelleben zu führen. Von Rupert Neudeck

Wenn das Wort „unglaublich“ nicht so abgedroschen wäre, würde man es auf dieses Buch münzen. Das, was junge Frauen aus einem meist anders-kulturellen Milieu erleben, auch in Deutschland, ist so unglaublich, dass man hier den einen oder anderen Fall nacherzählen muss, den die verdienstvolle Autorin hier in dem neuen Buch „Alyahs Flucht“ berichtet. Es sind nicht alles muslimische Mädchen oder Frauen, es sind auch andere, die kulturellen Muster des Beschützens eines weiblichen Wesens ist den Kulturen insgesamt zugeeignet. Es geht auch – das ist vielleicht das besondere Verdienst dieses Buches -, nicht nur um junge Frauen, sondern auch um junge Männer, die zwangsverheiratet werden. 

Wie die Autorin das im Fall eines anderen Kurden, Karzan, beschreibt, der im Urlaub mit einer Vierzehnjährigen verheiratet wurde. Das war eine Imam Ehe in einem Dorf in Ostanatolien. Karzan ließ das über sich ergehen, wurde gezwungen, mit seiner minderjährigen Braut eine Nacht in einem Zimmer zu verbringen. Allein die Tatsache, dass er mit diesem Mädchen eine Nacht zusammen war, war Beweis genug, dass Karzan sie „benutzt“ hatte. Ihm war auch klar, dass dieses Mädchen von Stunde an wie eine Aussätzige im Dorf behandelt wurde. Er wird zitiert: „Ich wünschte, ich könnte ihr helfen, aber das geht nicht, ich kann nicht mit einem Menschen zusammenleben, den ich nicht liebe“. 

Kurz nach dem er aus der Türkei wieder zurück war, türmte Karzan. Er hoffte, dass er die Eltern durch seine Flucht zur Einsicht bewegt hatte. Zwei Wochen später rief eine seiner Schwestern an. Die ihm sagte, der Mutter ginge es sehr schlecht, sie läge im Krankenhaus und hätte nur noch den Wunsch, den eigenen Sohn zu sehen. Der Sohn ließ sich erweichen und kam zurück. Er wurde dann so verprügelt, dass er mit diversen Brüchen und Prellungen lange Zeit im Hospital zubringen musste. Sein Vater drohte ihm, er würde ihn lieber tot als lebendig sehen, als eine solche Schande zu akzeptieren. 

Es gelang ihm dann mit Hilfe der Hilfsorganisation „Hennamond“ die Flucht. Er musste aber eine Namensänderung durchsetzen, die aber noch kein ausreichender Schutz war. „Er musste bei jedem Vertrag, den er schloss, bei jeder Anmeldung, die aus seinen Namen lief, peinlich genau darauf achten, dass keine Angaben über seine Identität an Dritte gelangten. Das ist eine von den vielen Geschichten, die im Prisma der Hauptgeschichte die Autorin erzählt. Entsetzt ist der Leser und Bürger, weil er erfährt, dass auch die Polizei manchmal nur ratlos ist. 

Es sind aber auch positive Lichtblicke, es kommen ja schließlich Türken, wie die Eltern der Autorin Balci, für die die beiden Worte „insan haklari“, Deutsch: „Menschenrechte“ eine Quelle ganz großer Hoffnungen darstellt. Diese beiden Worte sagt die Mutter der Autorin heute noch, wenn sie die eigenen Kinder daran erinnern will, wie kostbar dieses Gut der Freiheit ist. Positiv ist auch, dass es immer mehr Mischehen gibt zwischen Deutschen und Türken. Aber, so informiert uns die Autorin, es sind immer deutsche Frauen, die sich mit türkischen Männern verheiraten, so gut wie nie oder ganz selten sind es muslimische Frauen, Araberinnen, Bosnierinnen, Türkinnen, die nichtmuslimische Männer heiraten. 

Ein Fall wie die Liebesgeschichte von Aliya  und Dimi, ihrem Freund, ist natürlich doppelt und dreifach gefährlich. Denn Dimi ist auch noch aus einer griechischen Familie. Als die Teenager-Liebesgeschichte begann, hatte Aliyah zwei Handies, eines von den Eltern, um ständig erreichbar zu sein. Ein zweites war ihr eigens, das hatte sie im BH versteckt. Die Eltern von Dimi, Maria und Nicos Samos, mussten aus Berlin wegziehen, denn ihre Hoffnungen, dass die verbotene Liebe von Aliyah und Dimo von den Özgangs akzeptiert worden wäre, war totale Illusion. Die Familie Samos wurde auch verfolgt, hatte den Ort verlassen, den Job aufgegeben. 

Die Autorin kann diese Untergrundbeziehung zwischen Aliyah und Dimi sehr eindrucksvoll beschreiben. Vielleicht, schreibt sie, hätte sich Shakesspeare bei seinem Drama über die verbotene Liebe nicht mehr für das italienische Verona, sondern für Berlin-Neukölln, Essen-Katernberg, Köln Mühlheim entscheiden würde. 

Denn überall gibt es Familien, die an dieser archaischen Kultur festhalten und die jungen Leute schikanieren und demütigen. Was so erschüttert, ist die Tatsache, dass dieser Wille der Familienväter, die eigene Tochter wieder einzufangen, tot oder lebendig, so massiv und unendlich ist, dass selbst polizeiliches Wirken außer Kraft ist. Die Polizei und die Behörden können im Zweifelsfall nur die Namensidentität ändern, weil die Personen sich nicht mehr unter ihrem alten Namen irgendwo eintragen dürfen oder melden dürfen. 

Die Autorin räumt mit Vorurteilen auf, die uns lieb und teuer sind, aber nicht unbedingt stimmen. So beschreibt sie das Doppelleben von Hanan, auch eine Kurdin aus Anatolien, 26 Jahre, studiert Jura in Berlin. Es gebe in Deutschland emanzipierte Frauen aus muslimischen Familien, die ein Doppelleben führen, um sich zumindest eine kleine Flucht aus der Bevormundung der Familie zu verschaffen. Balci: „Wer glaubt, dass Bildung resistent gegen die Unterwerfung unter patriarchale Strukturen macht, der irrt. Immer wieder habe ich Frauen getroffen, die gut gebildet waren und dennoch sich den Kontrollen Ihrer Familie gefügt haben“. 

Die Autorin hat diese jungen Türkinnen erlebt, die sich während der Gymnasialzeit ständig ihrer Jungfräulichkeit versicherten und ausdrücklich betonten, dass sie vor der Ehe keinen Freund haben wollten. Das würde oft auch mit dem grotesken Anspruch der Selbstüberhöhung gegenüber den sittenlos lebenden Deutschen gesehen. Bei näherem Hinsehen sei die Behauptung der Jungfräulichkeit vor der Ehe aber meist eine Lebenslüge gewesen. 

Die meisten gingen Beziehungen ein, auch mit deutschen Männern. Hanan ist die Frau, die die Autorin beschreibt. Wie sie es geschafft hat, das Studium aufzunehmen, ist eigentlich schleierhaft, denn sie darf ja nicht eine Stunde mit irgendeinem Mann alleine sein. Hanan kam in Kontakt zu der Autorin. Das Studium war ihr Schutz, weil die Familie eben auch einen haben wollte, der den ganzen Büro- und Versicherungskram für alle in der Großfamilie leisten würde.

Hanan verliebte sich in Martin, einen Studienkollegen. Auch mit dem Handy sind die jungen Frauen nicht frei, sie müssen jede empfange oder gesendete SMS sofort löschen, weil niemand irgendwelche Spuren erkennen dürfte. Sie musste mit 220 km /h über die Autorbahn brettern, um  pünktlich zu Hause zu sein. Sie hatte ihr ganzes Leben lang das Schwindeln geübt, vermutlich wäre jeder Lügendetektor an ihr gescheitert. 

Das Buch gibt Hinweise auf die patriarchalische Struktur, die natürlich mit den Gesetzen und der Polizei schlecht einzufangen ist. Die Männer haben Angst davor, die Macht über die Frauen zu verlieren. Aber auch bei Hanan war das Relikt aus ihrer Familie. Z.B. war sie extrem eifersüchtig. Die Handy Kontrollen, die sie von ihrem eigenen Bruder ertragen musste, führte sie bei ihrem deutschen Liebhaber Martin durch. Wenn die Familie einen so totalen Besitzanspruch auf die Tochter hat, dann ist es auch möglich, dass sich dieses Muster auf die spätere Beziehungen zu einem Mann überträgt. 

Es gibt kein Patentrezept, es gibt aber klare Regeln, die einzuhalten sind, die möglicherweise dann auch solche Familien entweder ganz schnell wieder zurückbringen in das Herkunftsland oder sie stumm werden lassen. So lange solche Familien es in der Hand haben, die eigene Tochter zur Schule zu schicken oder nicht, zum Schwimm und Sportunterricht oder nicht, zur Klassenfahrt mitgehen zu lassen oder nicht, wird es immer so sein, dass die alten Kulturmuster nicht einmal richtig in Frage gestellt werden. Aber wenn das System ähnlich dem amerikanischen so ist, dass man der bleiben kann der man ist, aber gleichzeitig ganz neuer Staatsbürger mit der neuen angebeteten Hymne und der neuen Fahne sein muss, wenn das in der Strenge bei uns zusammengehen würde, wäre ganz viel gewonnen. 

Ich habe dieses Verhältnis von ganz großer Freiheit und höchster Regeltreue der eigenen Sache gegenüber bei den Vietnamesen in Kalifornien einmal miterleben dürfen und weiß seither, wieviel wir falsch machen, auch dadurch, dass wir nicht viel strikter darauf bestehen, dass die Sprache ganz schnell und ohne Bringschuldleistungen der Gesellschaft gelernt werden muss. Davon müssten wir uns etwas abschneiden, auch was die Härte des Aufnahmeprozesses angeht.

Quelle

Rupert Neudeck 2014 | Grünhelme 2014

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