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Depositphotos | yulan | Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) hat mit seinem Bericht vom Mai 2019 in drastischen Worten und erschreckenden Bildern auf ein drohendes gigantisches Artensterben aufmerksam gemacht,

© Depositphotos | yulan | Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) hat mit seinem Bericht vom Mai 2019 in drastischen Worten und erschreckenden Bildern auf ein drohendes gigantisches Artensterben aufmerksam gemacht,

Artensterben

Was sollten wir über das Artensterben wissen oder aber möglichst schnell lernen? Professor Udo E. Simonis stellt uns ein Buch vor, das bei der Beantwortung dieser Fragen nützlich sein kann.

Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) hat mit seinem Bericht vom Mai 2019 in drastischen Worten und erschreckenden Bildern auf ein drohendes gigantisches Artensterben aufmerksam gemacht, auf ein Massensterben von Menschenhand, auf das Auslöschen eines Großteils der Evolutionsprodukte – wie aber auch und besonders auf die dringlichen Aufgaben der politischen Entscheidungsträger. Über dieses neue, sechste große Artensterben in der Erdgeschichte gibt es nun einen umfangreichen Bericht, aber noch kein Buch eines Autors.

Dagegen hat die wissenschaftliche Erforschung der bisherigen großen Artensterben eine lange Geschichte. Und darüber gibt es ein mit viel Sorgfalt ins Deutsche übersetzte Buch des Paläontologen Norman MacLeod, das den Leser mitnimmt auf eine 600 Millionen Jahre überspannende Reise durch die Geschichte des Lebens und Sterbens auf der Erde.

Der Autor beginnt mit dem Hinweis, dass über das Aussterben von Arten schon viel geschrieben worden sei. Viele dieser Abhandlungen sähen die Aufgabe, das Aussterben im Allgemeinen wie das einzelner Aussterbeszenarien zu erklären, auch als gelöst an. Dieser Ansicht ist MacLeod aber überhaupt nicht. Und so will er die Annahmen und Ergebnisse von Forschern jeglicher Couleur erst einmal umfassend präsentieren, mit allen Nuancen, Lücken und widersprüchlichen Mutmaßungen. Dies macht das Lesen des Buches zwar anstrengend, aber zugleich auch spannend.

Von Aussterben redet man, wenn das letzte Individuum einer taxonomischen Gruppe (z.B. einer Art, Gattung oder Familie) stirbt (Kapitel 1). Doch hier liegt schon ein erstes Problem: Ökologen und Demografen benutzen das Wort „Aussterben“ meist im Zusammenhang mit dem Verschwinden einer Gruppe aus einem lokal begrenzten Gebiet oder einer Region; Paläontologen und Umweltschützer verwenden den Begriff hingegen meist in der Bedeutung des weltweiten Verschwindens einer Gruppe.

Das Konzept des Aussterbens und das der Evolution stehen in einer seltsamen Beziehung zueinander (Kapitel 2). Charles Darwin war z. B. der Ansicht, dass das Aussterben das natürliche Resultat eines jeden Existenzkampfes bilde, welcher die Grundlage seiner Theorie der natürlichen Selektion war. Er sah das Aussterben als einen graduellen Prozess an – und verwarf die Idee, dass das Aussterben auch durch physikalische Prozesse hervorgerufen werde. Wegen dieser Annahme des „Gradualismus“ natürlicher Prozesse spielte das Thema Aussterben weder in Darwins Buch über die Evolution (Über die Entstehung der Arten,1859), noch in anderen seiner Bücher eine große Rolle. Im 21. Jahrhundert aber änderte sich die Auffassung über das Artensterben grundlegend.

Mit den Veröffentlichungen von Otto Schindewolf in den 1950er-Jahren und Norman D. Newell in den 1960er Jahren wurde der „Katastrophismus“, die Idee, dass die Erde wiederholt zum Opfer massiver Umwälzungen durch Naturkatastrophen geworden ist, wiederbelebt. Paläontologische Indizien für den umfassenden Verlust bedeutender Tiergruppen über einen relativ kurzen erdgeschichtlichen Zeitraum und deutliche Hinweise auf massive Vulkanausbrüche und gravierende Veränderungen des Meeresspiegels wie auch der Nachweis, dass ganze Kontinente sich auf der Erdoberfläche verschoben hatten, veränderten die Sicht auf die Evolution und auf das Problem des Aussterbens.

Der größte Teil des Buches widmet sich daher einer detaillierten Beschreibung der Resultate dieser Neubewertung der Bandbreite physikalischer Prozesse, die zur zufälligen Auslöschung von Organismen führen, wie aber auch der Konsequenzen dieser Neubewertung für das Verständnis der Effekte von globalen Umweltveränderungen, die vom Menschen verursacht wurden und werden könnten. Der Autor geht im Besonderen der Frage nach, ob hauptsächlich eine einzelne Klasse intensiver und ungewöhnlicher Ereignisse für die großen geologischen Aussterbeereignisse verantwortlich ist oder ob sich diese eher mit einer ungewöhnlichen Verkettung von Ereignissen in Verbindung bringen lassen – ob also jeweils Einzelursachen (EU-Szenario) oder aber multiple interaktive Ursachen (MIU-Szenario) vorliegen.

Die primären Daten für die Erforschung von Ursachen und Auswirkungen großer Aussterbeereignisse stammen aus dem Fossilbefund, der über die Zeit eine unglaubliche Aufmerksamkeit in der Forschung erlangt und zu detaillierten Erkenntnissen geführt hat. Die Frage, wie viele fossile Arten es gibt, ist dennoch kaum zu beantworten, weil jährlich Hunderte bis Tausende an neuen fossilen Arten von Paläontologen und Hobby-Fossilienforschern entdeckt werden. Auch den Mustern im Datenmaterial gilt das Interesse des Autors, weil darauf wiederum die Schlussfolgerungen für die Arten des Aussterbens beruhen (Kapitel 3).

Eine Theorie des „Massenaussterbens von Arten“ wurde erstmals von Georges Cuvier im frühen 19. Jahrhundert formuliert, womit die Katastrophismus-Uniformitarismus-Debatte begann. Im Jahr 1982 veröffentlichten David Raup und Jack Sepkoski dann eine Zusammenfassung von Aussterbedaten auf Familienebene (später auch auf Gattungsebene) und stellten fest, dass die Größenordnung des Aussterbens in verschiedenen geologischen Zeitabschnitten es rechtfertigte, den Begriff „Massenaussterben“ zu verwenden. Daraufhin verfestigte sich die Schlussfolgerung der „Big Five“, der fünf großen Massenaussterben, die in den letzten 600 Millionen Jahren auf dem Planeten Erde stattgefunden haben (Kapitel 4).

Beim Aussterbeereignis des End-Ordovizium im Zeitalter des Hirnatiums (1. Großes Sterben) lag der geschätzte Artenverlust (Gattungsdaten) bei 82 bis 88 %; beim Ereignis End-Kreide im Zeitalter des Maastrichtiums (5. Großes Sterben) lag er bei 71 bis 81 %. Diese großen, ungewöhnlichen und zerstörerischen Ereignisse haben die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen, was aber nicht bedeutet – so der Autor in aller Deutlichkeit – dass die anderen Aussterben neben den „großen Fünf“ unwichtig seien. Um diese kleineren Ereignisse von den großen zu unterscheiden, haben Raup und Sepkoski den Begriff „Hintergrundaussterben“ geprägt. Schätzungen zufolge fanden mehr als 95 % aller Artensterben in der Geschichte des Lebens auf der Erde während der Zeitintervalle des Hintergrundaussterbens statt.

Den Ursachen des Aussterbens ist das Kapitel 5 gewidmet, wobei zwischen proximaten und ultimaten Aussterbemechanismen unterschieden wird. Zu ersteren gehören die globalen Temperaturänderungen, die Änderungen des Meeresspiegels, die marine Anoxie und die Ozean-Atmosphäre-Zirkulation. Zu den ultimaten Aussterbemechanismen gehören die Sonnenstrahlung, die Plattentektonik, der Vulkanismus und die Einschläge von (großen) Meteoriten. Von letzterer Ursache sind knapp 200 Einschlagkrater entdeckt worden, deren Durchmesser von 135 Metern bis zu 300 Kilometern reichen. Große Einschläge wie das Chicxulub-Ereignis haben eine Vielzahl von intensiven, aber relativ kurzlebigen Effekten gehabt (EU-Szenario), wie Tsunamis, globale Dunkelheit, erhöhte planetare Albedo oder erhöhter Säuregehalt des Regenwassers.

In den Kapiteln 6 bis 13 werden sodann die Aussterben in den geologischen Zeitaltern – vom Kambrium bis zum Quartär – nach einem einheitlichen Muster dargestellt: Rahmensituation, Artensterben, zeitlicher Verlauf, Ursachen. Dieser Teil des Buches ist mit teils wunderschönen Landschaftsfotos, filigranen Fossilabbildungen, mit Karten, Schaubildern und Rekonstruktionen vergangener Zeitalter illustriert.

Eine intensive, aber nicht übermäßig lange Darstellung gilt – wie könnte es anders sein – dem Aussterben der Dinosaurier (Kapitel 11). Über dieses Massenaussterben am Ende der Kreidezeit ist mehr geforscht und geschrieben worden als über jedes andere der fünf großen Sterbeereignisse. Was die Größenordnung angeht, weist das endkreidezeitliche Massenaussterben jedoch die geringste Intensität auf: Ausgehend von einem Verlust von 16 % der marinen Familien und 47 % der marinen Gattungen schätzen Raup und Sepkoski die Intensität des Artensterbens auf 57 bis 83 % ein. Die dem ungewöhnlich großen Himmelskörperimpakt – dem Chicxulub-Einschlag – beigemessene überragende Bedeutung teilt der Autor jedoch nicht; er sieht darin eine zu starke Vereinfachung und zieht in sein Szenario daher auch die Änderungen des Meeresspiegels und den Vulkanismus mit ein.

Dem Kapitel über Aussterben in der modernen Zeit und in der Zukunft (Kapitel 14) hat der Autor das Bild des „Dodo“ vorangestellt, eine der ersten Tierarten, von der bekannt ist, dass sie direkt infolge menschlicher Einwirkung ausstarb. Mit dem massenweisen Auftreten des Menschen und dem entstandenen massiven industriellen Metabolismus sind neue proximate und ultimate Mechanismen entstanden, die ein Massenaussterben wie ein Hintergrundaussterben von Arten bewirken können.

Es gibt eine Reihe von Übersichten über die Artenverluste seit dem Ende des Pleistozäns (vor 11 700 Jahren), die in der Regel aber weniger als 1 000 Arten enthalten, insbesondere Spezies, die Symbole des Artensterbens im Laufe der Menschheitsgeschichte sind, wie z.B. die Wandertaube und den Dodo. Diese Listen unterschätzen aber nach Meinung des Autors die tatsächliche Größe des Aussterbens im Zeitalter des Holozän. Umgekehrt gibt es seiner Meinung nach aber auch Überschätzungen, einschließlich der Vermutung, dass sich die Erde derzeit tatsächlich schon im sechsten Massenaussterben befände.

MacLoad schießt sich an dieser Stelle auf Norman Myers (The Sinking Ark, 1979) ein, der von einer durchschnittlichen Aussterberate von 40 000 Arten pro Jahr ausgeht, sowie auf den früheren US-Vizepräsidenten Al Gore, der in mehreren Veröffentlichungen diese Größenordnung übernommen hat. Der Autor hält es für unzulässig, aus begrenzten Studien moderner Spezies einfach hochzurechnen und die Ergebnisse mit den großen Artensterben der geologischen Vergangenheit gleichzusetzen.

Er nimmt stattdessen Geerat Vermeij als Zeuge, der den Aussterben in der modernen Welt einen starken lokalen Charakter beimisst, die von Faktoren wie Habitatfragmentierung, Einführung von Raubtieren oder Konkurrenten und Einschleppung von Phatogenen bestimmt seien. Diese Faktoren könnten gravierend sein, so sagt er, aber kaum beträchtliche Artenzahlen in ganzen Regionen auslöschen oder Aussterbekaskaden herbeiführen. Doch er nimmt sich damit nicht aus der Pflicht als Wissenschaftler – und schreibt: „Die aktuelle Herausforderung besteht darin, zu bestimmen, ob und wann das Ausmaß moderner Artensterben gefährlich wird, und die notwendigen Entscheidungen abzuwägen, die gefällt werden müssen, um Wirtschafts-, Forschungs- und Bildungsressourcen auf die wichtigsten Probleme zu konzentrieren, vor denen die Menschheit steht“ (S. 212).

Die geeigneten Methoden, um zukünftige Aussterberaten abzuschätzen, sind nach MacLeod: Arten-Areal-Beziehungen, Extrapolationen aus den Roten Listen der bedrohten und gefährdeten Arten, und wahrscheinlichkeitsbasierte Schätzverfahren auf Basis der Roten Listen der IUCN (Weltnaturschutzunion) als Datenquelle. Kritisch fügt er zugleich hinzu, dass man, was die Schätzung der Raten und Wahrscheinlichkeiten des laufenden und des zukünftigen Artensterbens angeht, eigentlich noch am Anfang stehe – und folgert daraus: „Aus diesem Grund muss die Wissenschaft ihre Rolle … deutlich besser spielen. Es liegt an den Forschungseinrichtungen, sich vernünftige Prioritäten zu setzen mit dem Ziel, die Daten, Analysen und Prognosen zu liefern, die den … Bedürfnissen der Gesellschaft Rechnung tragen“ (S. 217).

Norman MacLeod hat mit dem vorliegenden Buch einen wichtigen Beitrag in diese Richtung geliefert. Und er lässt auch keinen Zweifel daran, dass die Verringerung der aktuellen Rate des menschengemachten Artensterbens durchgreifende Entscheidungen in Bezug auf unsere Konsum- und Produktionsaktivitäten erfordert, die grundsätzlich nachhaltiger werden müssen. Die Tatsache, dass das öffentliche Interesse am Aussterben von Arten und an Biodiversitätsthemen im Allgemeinen noch nie höher war als heute, sieht er dabei als ermutigendes Zeichen.

Ob ihm aber auch der nun vorliegende dramatische Bericht des Weltbiodiversitätsrates (IPBES) gefällt, der das bevorstehende sechste große Artensterben beschreibt? Dazu möge sich Norman MacLeod bald einmal äußern.

  • Auszüge aus der Zusammenfassung für Politiker “Summary for policymakers” (Stand 6. Mai 2019) – vom UFZ ins Deutsche übersetzt. (Die vorliegende Übersetzung ist jedoch keine offizielle Übersetzung des IPBES. Im Falle von inhaltlichen Widersprüchen zwischen dem deutschen und dem englischen Text  hat der englische Originaltext Priorität.)Factsheet Globales Assessment (2.2 MB)
  •  IPBES-Originaldokument der Zusammenfassung für Politiker “Summary for policymakers” in englischer Sprache (Stand 6. Mai 2019) http://bit.ly/IPBESReport
Bigi Alt | Die Meerechsen bezeichnete Charles Darwin als "Kobolde der Finsternis".Konrad Theiss Verlag
Quelle

Udo E. Simonis 2019 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) 

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