Auch wir sind Russland
Mutige Menschen, in einer verhängnisvollen Minderheit in Russland. Zu einem Buch über das andere Russland. Von Rupert Neudeck
Solche Menschen gibt es auch in diesem Russland und der Titel könnte für unsere Öffentlichkeit und für unser Publikum nicht besser und prägnanter sein: „Auch wir sind Russland“. Sie ist das, was man heute eine Menschenrechtlerin nennt, sie hat eine Organisation aufgebaut mit dem Namen „Komitee Zivile Unterstützung“.
Wenn man das Buch zu Ende gelesen hat, kann man sich nur freuen und wundern, dass sie noch lebt. Denn Leichen pflastern den Weg der Autorin. Anna Politkowskaja hatte des öfteren mit ihr bei ihrer Menschenrechtsarbeit zu tun, zumal das letzte Mal bei der Tragödie von Chassawjurt in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli 2006. An der Grenze war in dieser Nacht etwas passiert, was leider mit der Schlagzeile der Medien wenig zu tun hatte. In den Nachrichten hieß es: „Im Rayon Noschaj-Jurtow wurde eine Gruppe von Aufständischen vernichtet, die in diesen Ort eingedrungen war, um Terroranschläge zu verüben“.
Das ist das Fatale für Russland, aber auch das Fatale an den internationalen Beziehungen. Was Russland offiziell sagt, kann eine platte Lüge sein. So wie man der Welt erklärte, man werde in Syrien eingreifen, und die IS-Stellungen bombardieren. Und wir erfahren, dass die Stellungen der Assad-Gegner, der wichtigen demokratisch Beleumundeten, der Freien Syrischen Armee bombardiert werden.
Als sich Swetlana Gannuschkina auf den Weg machte, erfuhr sie etwas ganz anderes. Junge Tschetschenen waren in einen Hinterhalt gelockt und getötet worden. Schon eine Journalistin hatte in der einzigen unabhängigen Zeitung, der Nowaja Gazeta, geschrieben, es seien junge unbewaffnete Männer, von angeblichen Anwerbern in eine Falle gelockt worden. Als diese die Falle bemerkt hatten, wollten sie fliehen, wurden aber erschossen. Man konnte nicht mal sagen, ob diese jungen Männer sich wirklich den Aufständischen anschließen wollten. Die Familien berichteten Gannuschkina, ihre Söhne seien über die Grenze in die Tschetschenische Republik gelockt worden. Dort mussten sie Kampfkleidung anziehen. Anschließend führte man sie in einen Hinterhalt. 13 der jungen Männer wurden ermordet, fünf verletzt. Diese jungen Männer waren alle ohne Arbeit. Man erzählte ihnen, sie würden für eine kurze Zeit in einem Heiligen Krieg mitkämpfen. Alle diese jungen Männer waren bürgerlich bodenständig. Sie wollten Arbeit finden, sich an internationalen Wettbewerben beteiligen. Es ist so ohnmächtig, in einem Staat, in dem es nicht die Herrschaft des Rechts gibt und die Justiz nach der Trillerpfeife des Herrschenden die Strippen zieht, für Recht und Genugtuung für die Angehörigen der Opfer zu sorgen. Damals 2006 gab es für die Autorin noch die Möglichkeit Anna Politkowskaja anzurufen und mit ihr einen Interviewtermin auszumachen.
Das Kapitel in dem Buch über die unglaublich mutige Journalistin beginnt: „Dass Anna Politkowskaja jederzeit umgebracht werden konnte, war allen bewusst. Sie hatte immer wieder Drohungen bekommen“. Sie war in dem Willkürstaat Russland, in dem man sich auf keine Rechtsinstanzen berufen konnte, eine unersetzliche Instanz. Sie berichtete von allen Rechtsverletzungen und Schweinereien, deren Zeugin sie in Tschetschenien war. Wir erfuhren während unserer Cap Anamur Arbeit in Tschetschenien, wie die Menschen in Tschetschenien diese Journalistin verehrten. Sie ist in ihrem Mut allenfalls mit der Jüdin-Israelin Amira Hass zu vergleichen, die auch bei den Palästinensern lebt, um über die Palästinenser zu berichten und die dort nicht ermordet wird. Der Prototyp des installierten Unrechtssystems ist Ramsan Kadyrow, der der Sohn des im Stadion von Grozyny ermordeten Imam Ahmad Kadyrow war. Aber am 7. Oktober 2006 wurde die Journalistin ermordet, nicht im Feld, sondern vor ihrer Haustür im Treppenhaus des Moskauer Hauses. Bis heute hat es nicht annähernd irgendeine Genugtuung für diesen platten politischen Mord gegeben geschweige denn eine rechtsstaatliche Untersuchung. Wie sollte das auch sein, da es keinen Rechtsstaat gibt?
Putin sagte nach dem Mord in einer Begegnung mit Angela Merkel in Dresden: „Wer auch immer diese Tat begangen haben mag, der Mord fügt der Macht einen größeren Schaden zu, als es ihre Veröffentlichungen taten“. Die Autorin ist empört über die drei Fehler auf einmal. Möglicherweise könnten also die Täter auch gute Motive gehabt haben. Die Veröffentlichungen von Politkowskaja haben dem Land keinen Schaden zugefügt. Sie haben den Ermittlungsbeamten dazu gebracht, rechtsstaatlichen Grundsätzen zu folgen. Der Einfluss, den die Journalistin auf das Leben gehabt hat, war wirklich gewaltig.
Das Buch macht klar, wie Gorbatschow es schaffte, die Angst der damaligen Bürger zu nehmen. Aber er war ganz Illusionär und davon aufrichtig überzeugt, dass „unser Volk sich für den Sozialismus entschieden hat“. Die Autorin schreibt, er habe damals 1989 noch immer nicht begriffen, welche Geschwüre sich unter dem Deckel bereits gebildet hatten. „Wie alle anderen, die den Staat regiert hatten, kannte auch Gorbatschow keine anderen Methoden als Repressalien“. Boris Jelzin war der viel pragmatischere, er gründete einfach mit den nicht gewählten Präsidenten der Ukraine und von Weißrussland die „Union unabhängiger Staaten“ (GUS) im Dezember 1991. Gleb Jakunin, ein ex-Priester der russisch-orthodoxen Kirche, wurde von Patriarch Alexeius vom Dienst suspendiert, weil er 1965 die Einberufung eines „Allrussischen Kirchenkonzils“ gefordert hatte. Er berichtet von dem Treffen mit Jelzin, der gewohnt war, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Und er zitierte ihn mit den verhängnisvollen Sätzen: „Soll Gorbatschow doch Präsident der UdSSR sein. Wir werden die Sowjetunion zum Erliegen bringen und dann bin ich Präsident Russlands“.
Die Autorin beschreibt, wie sie „neidisch“ geworden ist auf die Entwicklung der Inneren Verhältnisse in der DDR und über das Ende der Stasi. Wie gern hätte sie sich gewünscht, dass auch in Russland diese Geheimdienst-Allmachts-Struktur zerschlagen wäre, also der KGB. „Was für ein Süppchen dort gekocht wurde, was dort vor sich ging, das wusste man zu der Zeit nie, und das weiß man bis HEUTE nicht“. In Russland vollzog sich das ohne Bruch, das was der KGB war, wurde der FSB. Nach dem Mord an dem Oppositionellen Boris Nemzow, der am 27. Februar 2015 an der großen Moskwa Brücke von Unbekannten ermordet wurde, wird sie öfter gefragt, auch von Journalisten aus dem Westen: Ob der Putin an das, was er selbst sagt, glaubt oder ob er weiß, dass das Lügen sind? Die Autorin sagt lapidar: Für einen Geheimdienstler, der das seien Leben lang war, gibt es keine Unterscheidung von Lüge und der Wahrheit. Der Geheimdienst ist eine Institution, welche die Lüge als Produkt hervorbringt.
Das Buch gibt diesen Einblick, der keinen Trost enthält: Diese alte Sowjetunion lebt in dem Russland des FSB und Putins und der gleichgeschalteten Medien fort. In Dresden habe die Autorin mal eine Führung durch ein Stasi Gebäude mitgemacht. Sie schreibt: „Solche Führungen sind in Deutschland möglich. Bei uns aber erhebt sich die Lubjanka, das mächtige Gebäude der Geheimdienstzentrale, mitten im Zentrum von Moskau in die Höhe und keiner weiß, wie viele Stockwerke es noch in der Tiefe besitzt“. Sie ist klar in ihrem Urteil: „Heute steht in unserem Land der KGB an der Spitze“.
Wie lebt man in einer Gesellschaft, in der es keine Herrschaft des Rechts gibt, in der Anwälte bezahlt werden müssen, Richter bestochen, Gerichte auf das Wort des Präsidenten tätig werden? In der Zeit des Tschetschenienkrieges schreibt die Autorin, es sei in dieser Zeit schwer gewesen, „von der Einhaltung von Gesetzen zu sprechen“. Trotzdem habe man einen Juristen in ihrem Beratungsteam gehabt. Man nannte einen Anwalt gern einen „Trägerling“ – schreibt die Autorin. Damit bezeichne man den Umstand, dass sich die Tätigkeit der Anwälte vielfach nur noch auf das Überbringen von Bestechungsgeldern zum Gericht beschränkt“. Sie erzählt dramatische Begebenheiten, in der man nur durch das Mitmachen dieser korrupten Praxis etwas erreichen kann. Es sind aber immer die Menschen, denen man helfen muss im Vordergrund, und selbst bei aussichtslosester Behördenlage und Repressionsrahmen kann eine kleine bewegliche Gruppe wie die von der Gannuschkina etwas tun. Noch während Ihres Engagements zwischen Armenien und Aserbaidshan wegen Nagorny Karabach beschreibt sie ihre erste Begegnung mit der Journalistin Anna Politkowskaja. Was in einer Gesellschaft, die bis drei Generationen im Brüderlichkeits-Traum des Internationalismus und des Proletariats gelebt hat, an nationalistischen Exzessen möglich ist, gehört auch zu den Erfahrungen der Menschheit. Gut jetzt auch noch mal das Kapitel über das Entsetzen zu lesen, das die Gesellschaft empfand, als der junge smarte Unternehmer am 26. Oktober 2003 verhaftet wurde, nach dem er noch mal in Nischni Nowgorod den ersten Preis des Gesellschaftsforums dafür bekommen hatte, weil er als Unternehmer als aktivsten und am effektivsten für das Wohl des Volkes arbeitete.
Im Menschenrechtsrat wagten drei Vertreter den Namen noch einmal zu erwähnen, aber Putin wollte nicht zuhören. „Es war offensichtlich: Es war Eifersucht. Eifersucht auf einen jungen erfolgreichen, gutaussehenden beliebten Mann“. Wahrscheinlich, sagt die Autorin, sind in Putin irgendwelche Komplexe aus seiner Kindheit wach geworden. Komplexe gegenüber einem jungen aus einer glücklichen und wohlhabenden Familie. Die Autorin wohnte dem Schauprozess bei, der nichts von einem Rechtsverfahren hatte. Chodorkowski soll eine unglaublich große Menge an Öl gestohlen haben, diese dann verkauft und die Gewinne des Verkaufs legal deklariert haben. Die Autorin fragte sich: Von wem hat er das Öl gestohlen? Von sich selbst, gibt sie die Antwort. Aber der Kreml (=Putin) hatte gesprochen, das Gericht erfüllte den Befehl. Chodorkowski bekam 14 Jahre Freiheitsentzug. Auf große Bemühungen von ex Außenminister Hans Dietrich Genscher wurde Michail Chodorkowski im Dezember 2013 begnadigt und auf freien Fuß gelassen. Kurz vor Weihnachten 2015 nahm die Putinsche Gerichtsmaschinerie wieder Kurs auf Chodorkowski und erließ einen internationalen Haftbefehl. Wegen der alten Anklagepunkte.
Das Buch ist nicht reißerisch auf eine böse journalistische Weise, aber es enthält Fakten, die dem Leser in den Bauch treten. Er muss etwas tun. Das Furchtbarste ist der Mangel des Rule of Law, es wird mit dem Gesetz gespielt. Im Falle einer Mitarbeiterin, die entführt wurde und dann auch ermordet, sagt ein Beamter der Rechtsschutzorgane, der nach Grozny versetzt war, nicht zynisch: „Wenn Ihnen jemand sagen sollte, in Tschetschenien zu arbeiten sei schwer, dann glauben sie ihm nicht. In Tschetschenien zu arbeiten ist überhaupt unmöglich“. Es wird mit den Hüllen der Demokratie gespielt, dass Medwedew an Stelle von Putin mal Präsident war, bedeutet für die Mono-Imperiale Machtausübung von Putin gar nichts. Nach diesem Buch und dieser Lektüre noch mal zu Büchern wie Krone-Schmalz oder Berger oder anderer Putin-Lakaien-Versteher zu greifen, fällt so schwer, dass man dazu nicht mehr versucht sein dürfte.
Das Buch gibt dem Leser die tröstliche Gewissheit, dass es weiter auch in Russland Menschen gibt, denen es um das menschliche Überleben dieser Gesellschaft geht. Die Autorin fragt, was das denn sei, Patriotismus, weil das nach der Sowjetunion der große Begriff geworden ist. Adam Michnik, den polnischen Dissidenten zitiert sie: „Patriotismus ist direkt abhängig vom Ausmaß der Scham, die ein Mensch empfindet für Verbrechen, die im Namen des eigenen Volkes begangen worden sind“
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