Aufstieg nachhaltiger Werte
Mit einem Blick auf solide Werte der Vergangenheit und der Gegenwart zu einem Ausblick auf nachhaltige Werte der Zukunft zu kommen – um die Verknüpfung von kulturellem Erbe und tragfähigen Zukunftsvisionen – darum geht es in diesem Buch. Eine Rezension von Professor Udo E. Simonis
Das neue Buch von Ulrich Grober hat zwei grund-legende Vorläufer: Mit seinem Buch „Die Entdeckung der Nachhaltigkeit“ (Erstauflage 2013) legte er eine fulminante Kulturgeschichte dieses zentral gewordenen Begriffs unserer Zeit vor, mit dem er ein großes Leser- und Hörer-Publikum erreichte; mit dem Vademekum „Vom Wandern“ (Erstauflage 2006) brachte er viele Landsleute auf die Idee, so wie er die eigene Heimat zu erwandern. Mit dem erstgenannten Buch wurde Grober zum Entdecker einer so noch nie beschriebenen Geschichte, mit dem zweiten brachte er vielen Menschen die nötige Motivation, sich auf die Natur einzulassen. Nun also das dritte Buch eines kulturell beflissenen Autors und begeisterten Wanderers. Auch in Zeiten der Krise zeigen sich, so seine Hauptthese, viele Zeichen der Nachhaltigkeit, wird eine bessere Zukunft sichtbar, wenn auch erst ansatzweise – mit leisem Atem. Mit einem Blick auf solide Werte der Vergangenheit und der Gegenwart zu einem Ausblick auf nachhaltige Werte der Zukunft zu kommen, um die Verknüpfung von kulturellem Erbe und tragfähigen Zukunftsvisionen, darum geht es in diesem Buch.
Es ist eine Art Reisebericht, der von Streifzügen durch das Land erzählt, die der Autor in den letzten Jahren selbst unternommen hat. Er handelt von Orten, an denen er das Gefühl bekam, dem in der Gesellschaft vor sich gehenden Wertewandel besonders nahe zu sein, unterschwelligen Veränderungen ebenso wie disrupten Umbrüchen. Es sind jeweils langsame Annäherungen an diese Orte, die letzte Etappe immer zu Fuß. „Denn zu Fuß siehst du besser“, sagt er, „nur wo du zu Fuß warst, warst du wirklich“. Es geht ihm um möglichst viel-sagende Realitäten, um Mosaiksteine für ein größeres Bild der zukünftigen Gesellschaft.
Vor Ort kam Grober mit vielen Akteuren der neuen „Suchbewegung“ ins Gespräch – und diese Gespräche sind eine Keimzelle des Buches. Doch Werte und sich wandelnde Werte sind schwer zu fassen und schlecht messbar. Sie entstehen nicht in der Retorte, so sagt er, sondern in der Atmosphäre des Zeitgeistes. Die Sprache kann dabei ein feiner Seismograph sein. Deshalb interessieren ihn Begriffe, die gerade Karriere machen. Die besonders zeitgeistigen Wörter hätten sehr wohl tiefe Wurzeln in der Kultur. Zukunft braucht Herkunft – so seine Folgerung.
Womit beginnen, wenn es um die Zukunft geht? Das wachsende Unbehagen an der die Gesellschaft zerreißenden Gier hält Grober für einen wichtigen Trend. Jedenfalls entwickle dieses Unbehagen in jüngster Zeit eine enorme Dynamik; aber es sei noch sehr diffus. Deshalb nimmt er als Wegweiser zu einer Betrachtung (einer gesellschaftlichen Analyse) Wilhelm Hauffs Märchen Das Kalte Herz. Mit diesem Büchlein im Rucksack entdeckt er im Nordschwarzwald die Schauplätze der Parabel – aber auch deren Aktualität: Gier und Narzissmus seien dysfunktional, angesagt seien Varianten der Warmherzigkeit – die Empathie. Davon handeln Kapitel 1 und der ihm folgende erste von fünf gedanklichen Zwischenrufen.
Kapitel 2 handelt vom Wert der Entschleunigung – und es spielt in der Autostadt, der „Traumfabrik“ des VW-Konzerns. Auch hier schärfte die langsame, wandernde Annäherung an den Ort die Wahrnehmung, was zu radikalen Folgerungen führt. Der Kult der Beschleunigung sei passé; die Wiederentdeckung von Geschwindigkeiten nach menschlichem Maß habe begonnen; die Zeit sei reif für einen Abgesang auf die Autostadt. Darauf muss man erst einmal kommen – angesichts der ausgestellten Modelle R8 mit 525 PS und Allradantrieb, des neuen Porsche und des schwefelgelben, vertikal an der Wand aufgehängten Lamborghini.
VW akzeptiert Nachhaltigkeit, beansprucht aber die Deutungshoheit über den Begriff. Die Autostadt treibe die Naturbeherrschung auf die Spitze mit der Idee eines neuen Futurismus. Die Natur werde kleingehalten, zu einer Art Bonsai-Natur gemacht, doch ohne die Grundidee des Bonsai. Denn die ist inspiriert vom Zen-Buddhismus. Wer dieses feinsinnige und zugleich spitzzüngige Kapitel gelesen hat, wird entweder empört sein oder aber sehr nachdenklich werden über die Zukunft der automobilen Gesellschaft.
Auf der Skala unserer Werte ist Gelassenheit weit nach oben gerückt. Was aber ist das – eine neue Art von wellness oder eine Variante von cool? In Kapitel 3 macht sich Grober für den Leser auf eine verschlungene Zeitreise, eine vielseitige Suche, die aus der Hektik unserer Tage über die Mystik des Mittelalters (Meister Eckhardt) bis in die Weisheit der Antike zurückgeht.
In Kapitel 4 geht es um eine konkrete Halden-Saga, eine neue Landmarke des Ruhrgebiets. Auf einer Berghalde, einer Altlast des fossilen Zeitalters, erhebt sich ein Horizont-Observatorium, ein Wahrzeichen des beginnenden solaren Zeitalters. Ein Ort härtester Maloche wurde dort zu einer Bühne verändert, die jeder nutzen kann, sich in die Rhythmen und Zyklen von Natur und Kosmos einzuklinken.
Auf dem Höhepunkt der Welle an Privatisierungen rollte eine neue Welle heran, die der Wiederentdeckung der commons. Wem gehört die Welt, wem sollte sie gehören? Die Antwort: allen und keinem! Grober besucht in Kapitel 5 dazu die noch intakten Allmende-Wälder im Weserbergland und spricht mit einem Wikipedia-Autor über die Zukunft der Wissens-Allmende.
In Kapitel 6 geht es dann um das Mantra des „Wachstums“. Hierzu macht sich der Autor auf den Weg zu einer Reihe von Pionieren des Wandels in Richtung „Postwachstumsgesellschaft“, die zwischen Münsterland, Thüringer Wald und dem Breisgau an neuen Lebensformen arbeiten, die auch nach dem Ende der wachstumsfixierten Wirtschaft tragfähig sein könnten. „Mut machende Laboratorien einer ‚anderen Welt‘ – im Hier und Heute“, nennt er das.
Was bleibt von der langen Reise durch das Land? Statt eines Epilogs präsentiert Ulrich Grober „Fragmente eines gelassenen Zukunftsdenkens“. Eine eindeutige Bilanz ziehen zu wollen, sei vermessen. Doch die Frage, auf welche Werte wir uns besinnen und rückbesinnen, sei entscheidend dafür, wie sich Zukunft gestaltet – wie wir Zukunft gestalten. Die Übergänge, Durchlässe und Durchbrüche zu einer „anderen Welt“ seien in unserer Kultur im Grunde angelegt. Noch aber sei nicht klar, ob der Wind des Wandels in Richtung Nachhaltigkeit weht und einem neuen solaren Zeitalter der Weg bereitet oder ob er sich abwendet und die regressiven Tendenzen entfesselt, die in den meisten Gesellschaften virulent sind. Umso wichtiger sei es, die lebensbejahenden Tendenzen und positiven Energien sichtbar und erlebbar zu machen, die in diesem Buch versammelt wurden.
Das Fazit des Rezensenten: Wer sich auf das neue Buch von Ulrich Grober wirklich einlässt, wird stark beeindruckt sein und tief beeinflusst werden – durch das, was sich allgemein ändern muss, was sich bereits geändert hat und das, was an konkreter Veränderung im Sinne strikter Nachhaltigkeit noch ansteht. Ermunternd dazu ist das Wort von Arundhati Roy, das sich auf dem Rückendeckel des Buches findet: „Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist schon im Entstehen. An einem stillen Tag höre ich sie atmen.“
Ulrich Grober ist Publizist und Buchautor. Seine Themenfelder sind Ökologie, Nachhaltigkeit und zukunftsfähige Lebensstile. Ihn beschäftigt vor allem die Verknüpfung von kulturellem Erbe und Zukunftsvisionen. Sein Buch „Die Entdeckung der Nachhaltigkeit“ gilt als Standardwerk, sein Buch „Vom Wandern“ ist ein Longseller.
Quelle
Udo E. Simonis 2016 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Redakteur des Jahrbuch Ökologie