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Das grüne Gewissen

Wenn die Natur zur Ersatzreligion wird. Was ist das Natürliche an der Natur? Zu einer fast religiösen Frage des modernen Bürgers. Von Rupert Neudeck

Dieses Buch fällt zwischen alle Kategorien von Büchern: Das ist kein reines Sachbuch, es ist auch kein Roman. Hier schreibt ein Sachbuch-Autor, wie man ihn banal nennt, so literarisch, so schön, so gewinnend für seine Thesen, dass man eine neue Mischkategorie von Buch dabei zu lesen glaubt. Er beschreibt nicht in akademisch-sachlicher Form einen Sachverhalt, sondern erzählt. Wie wir vor der Globalisierung Tiere gegessen haben und wissen konnten, dass wir Rind und nicht Pferd aßen. Z.B. in dem Ort Ehingen.

„Es klingt wie ein Märchen aus einer anderen Zeit“: Mehrmals in der Woche fuhr der Metzger Götz zu seinen Bauern in die umliegenden Dörfer. Wobei er sich nie mehr als 20 Kilometer im Umkreis bewegte. Er kannte jeden von ihnen und sie kannten jedes ihrer Tiere.

„Götz suchte sich ein paar Schweine und ein Rind aus, verlud das Vieh auf seinen Transporter und fuhr zum Schlachthof, wo er die Tiere selbst schlachtete.“ Der Autor zitiert diesen Götz: „Ich habe immer nur solche Höfe genommen, die die Tiere so hielten und fütterten, wie ich es mir vorstellte“.

Nachdem die Tiere getötet waren, kam das Fleisch in die Metzgerei, wo man Wurst, Schinken, Braten und anderes daraus machte. Entweder frisch in der Ladentheke oder in Konserven mit einem Etikett:„Metzgerei Paul Götz, Hauptstrasse 99, 7930 Ehingen/Donau“.

Der Rezensent kann das Zitieren gar nicht beenden, so verführend ist das Märchen in der Zeit des Pferdefleisch- und Eierskandals: Götz konnte am Fleisch ablesen, ob es den Tieren gut ging oder ob sie nur eine Nummer waren. Diesen Metzger nimmt der Autor zum Zeugen, warum wir alle mittlerweile BIO haben und essen wollen. Das hat viel weniger mit der vermeintlich gestiegenen Verantwortung für die Natur zu tun. Es hat mit dem Zusammenbruch des einstigen Mittelstandes zu tun mit seinen kleinen, aber wirtschaftlich tragfähigen Strukturen. Und es hat mit der Internationalisierung der Warenströme zu tun.

Der Autor beobachtet ein zunehmendes Misstrauen gegen die Impfkampagnen, die früher zumal bei Kleinstkindern selbstverständlich waren. Heute gibt es keine Impfpflicht mehr, nur noch Empfehlungen. Man kann manche Impfungen nachholen bis zum 18. Lebensjahr.

Möller: „Wir haben begonnen, die Gefahren der Natur nicht nur zu vergessen, sondern massiv in Frage zu stellen“. Überall seien wir durch Sport, bessere Ernährung, sichere Technologien bedacht darauf, Risiken zu vermeiden – hier jedoch gehen wir sie bewusst ein. Noch schärfer: „Dieselbe Gesellschaft, die Jugendämter zum Intervenieren in Familien mit vermuteter Verletzung der Fürsorgepflicht oder Gewalt anhält, die eine allgemeine Schulpflicht hochhält und sich den Schutz Heranwachsender vor passivem (!) Rauchen auf die Fahnen geschrieben hat, nimmt die Gefahr für Kleinstkinder in Kauf“.

Es geht immer um Feindbilder. Es geht um generelles Misstrauen gegenüber dem technischen Komplex und dessen schädlicher Wirkung auf das –  ja das „Natürliche“. Es geht natürlich um die Profite der Pharmakonzerne. Klar. Aber das sei ein gefährlicher Kreuzzug gegen die Medizin, der den Vertrauensverlust gegen die moderne Welt beinhaltet.

Der Autor weiß das am Beispiel der Influenza Impfungen zu erklären. „Hätte die Industrie keinen Impfstoff produziert, wäre sie der Vorsorgepflicht nicht nachgekommen. Als die Industrie ihn herstellte, und er nicht abgerufen wurde, hieß es, man habe nur Geld machen wollen. Am Ende werden die Gegenstände der wissenschaftlich-technischen Welt von einem Gefühl des Misstrauens durchtränkt“.

Aber: jedes Jahr stirbt in Afrika eine Mio Kinder an den Folgen der Malaria. Die Tuberkulose gehört zu jenen Infektionskrankheiten, die in Afghanistan noch erschrecken. Würden wir den Einsatz von Antibiotika – fragt der Autor – mit dem Hinweis zurückdrängen, dass wir wider-natürlich handeln?

Das Buch besticht schon mit seiner Sprache und seinem Stil. Da ist jemand, der mit allen Wassern moderner Medizin, Technik und Technologie gewaschen ist, aber gleichzeitig an entscheidender Stelle auf Gottfried  Benns Gedicht „Saal der kreißenden Frauen“ und auf die Aufzeichnungen des „Malte Laurids Brigge“  von Rainer Maria Rilke zurückkommt. Wir achten und ehren nicht mehr diejenigen, die uns das Leiden an den großen Killerkrankheiten durch Impfungen und Arzneien  erleichtert haben. Mit der Atmosphäre heutiger Krankenhäuser hat das von Gottfried Benn nichts mehr zu tun.

Der Autor erzählt, wie sein Sohn in einem Raum der größten Geburtsklinik Deutschlands, der Charite im Zentrum Berlins zur Welt kam. Seine Frau und er hatten das Gefühl, in der Charite in ihrem Krankenzimmer eine private Atmosphäre zu erleben. Als der Geburtsvorgang stockte, kam die Hebamme häufiger in den Raum. Am Ende gab es einen Kaiserschnitt. Alles sehr zuverlässig.

In der Mitte des 19. Jahrhundert starb jede sechs bis achte Mutter unter der Geburt oder im Wochenbett. 1950 waren es noch 200 Mütter bei 100.000 Entbindungen. Heute sind es noch sieben.

So sind es immer Erzählungen, an denen der Autor die Phänomene der Technik, des medizinischen Fortschritts, des größeren Wohllebens zu exemplifizieren weiß. Er weiß um Natur und Technik in Deutschland und wie wir in Gefahr sind, Natur zur Ersatzreligion zu machen. Er streift die „Green German Angst“. Er besucht und beschreibt die Kernkraftwerke und ihre Umgebung. Mir ist als Leser, als habe uns das noch niemand so deutlich und nah erläutert. Er beschreibt die Welt der Schwangeren zwischen Hausgeburt und Impfverweigerung. Am Prenzlauer Berg besingt er die „Seele der handgemachten Dinge“.

Man kann das alles diskutieren. Man kann dem Autor aber nicht sagen, dass er nachlässig mit sich, dem Menschengeschlecht und der Welt umgeht. Nein, er will uns auch nicht da entlasten, wo es nicht geht. Aber er möchte uns simple Wahrheiten sagen und von der Sucht zur Übertreibung und Selbstkasteiung wegbringen.

Vielleicht – sagt er an einer Stelle – hängen wir bei der Bestandsaufnahme der Welt Täuschungen an. „Das Verschwinden mancher Tierarten nehmen wir als Indiz, dass der Mensch seine Umwelt sukzessive zugrunde richtet. Nicht  anders als beim Klimagipfel gebrauchen wir diese Vermutung gegen uns selbst“.

Deshalb ist es gut, sich zwischendurch mit common sense klarzumachen: „Die Natur verliert nicht, weil sie keine Person im Sinne des Menschen ist“ (so zitiert der Autor den Münchener Ökologen Joseph R. Reichholf).

Natur, so macht der Autor im Epilog klar, ist nicht das, was wir kulturpessimistisch oder romantisch so nennen. Er kniet sich als Angler nieder vor einer Blindschleiche. Er berührt ihren braungrauen Körper. Es sei, als zögen in diesem Moment all die Jahre vorbei, in denen ich mit ihm in der Natur war und herausfinden wollte, ob sich ein Tier, eine Kröte oder ein Käfer bewegte. Neben ihm ein Mann in Latzhosen, der einen Fisch fängt, den er in den Eimer wirft, ohne ihn zu betäuben.

Der Autor erinnert sich an seinen Vater und den am Boden springenden Fisch, den er mit dem Messer tötete. Dann geht er die letzten Meter in Richtung Schilf, bis er das Wasser des Rhins bei Warnemünde erkennen kann. „Am Horizont sind Schiffe zu sehen, die in Richtung Dänemark fahren.“

Quelle

Rupert Neudeck 2013Grünhelme 2013

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