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C.H.Beck Verlag

© C.H.Beck Verlag

Das Kapital im 21. Jahrhundert

Das Kapital und ein marktwirtschaftlich-soziales Manifest. Zu einer neuen Untersuchung des Kapitals – nach Karl Marx. Von Rupert Neudeck

 

 

Das erste, was man dem Autor zubilligen muss, der als Volkswirt ein dickes Buch schreibt: Er hat eine interessante Sprache, die nicht fachidiotisch dürre daherkommt. Immerhin beweist sich Piketty als großer Anhänger und Fan von Honore de Balzac und Jane Austen und hat auch die Kenntnis anderer Großschriftsteller bis zu Orhan Pamuk auf dem Buckel. Es kommt immer wieder zu fast beschwörenden Wortkaskaden: „Das Kapital ist niemals ein Ruhekissen. Es ist stets risikobehaftet und dynamisch, zumindest in seinen Anfängen“.

 

Gleichzeitig habe es immer die Tendenz, sich in Rente zu verwandeln, sobald es unbegrenzt akkumuliert werde – das sei eben seine Bestimmung, sein zwangsläufiges Schicksal. Ja, aber gleichzeitig gibt er sich dann auch immer wichtige Aufgaben beim Schreiben, die den Leser mitziehen sollen: Denn er fragt sich und uns, woher denn dieser diffuse Eindruck komme, das die sozialen Ungleichheiten in unseren Gesellschaften heute dennoch ganz anders geartet seien als zur Zeit von Honore de Balzac und Jane Austen? Er hat ständig solche Auto-Regie-Schreibanweisungen, die dem Leser helfen, das ungestüm voranschreitende dicke Buch zu ordnen und zu verstehen: „Handelt es sich hier um bloßes Gerede ohne Bezug zur Wirklichkeit oder lassen sich objektive Faktoren ausmachen, die uns erklären, inwiefern das moderne Wachstum dafür gesorgt hat, dass das Kapitel strukturell dynamischer ist und weniger Rentencharakter hat?“

 

Ja, man kann auch sagen, der Autor will etwas sehr Widersprüchliches tun – und Widersprüche sind sein Forschungs- und Lebenselixier: er hat ein unanständig dickes Buch geschrieben, das man besser gar nicht erst zu Hand nimmt, um Lebenszeit zu gewinnen, aber er will gleichzeitig Leser-Freundlich sein. Wenn es dann mit seinen mathematischen und Gleichungen wie dem Anteil des Kapitals am Nationaleinkommen gleich dem Produkt aus Kapitalrendite und dem Kapital Einkommens Verhältnis geht, entschuldigt er sich dann gleichsam: „Ich bitte den Leser, der mit Mathematik nichts im Sinn hat, das Buch nicht sofort zuzuklappen“. I beg pardon, sagt er mehrmals im Buch zum Leser, es sei nur ein minimaler theoretischer Rahmen, der zum besseren Verständnis der historischen Entwicklungen beitrage, „die für jeden wichtig sind“.

 

Die Zusammenfassung Europas und Amerikas zu dem transatlantischen Block Der Westen kann zwar vereinfachen, sei aber weitgehend künstlich. Europa habe seinen wirtschaftlichen Höhepunkt vor dem Ersten Weltkrieg erreicht, mit fast 50 % des Bruttoweltprodukts und sei danach kontinuierlich gesunken, während die USA ihren Höhepunkt in den 1950er Jahren erreicht hätten. Da sich die Zahlen da etwas im Ersten Hauptteil kumulieren, sagt er dem Leser: man müsse sich alle diese Zahlen nicht merken, aber es sei nützlich, sich mit den Größenordnungen vertraut zu machen.

 

Es geht immer wieder um das Entgleiten des Kapitalismus und der Finanzinstitutionen, aber der Autor geht seinen Weg ganz stur und immer nur Schritt für Schritt. Er verweist in immer neuen Regieanweisungen seine Leser auf die letzten Kapitel. Er belegt seine Untersuchungsergebnisse sorgfältig an dem, was uns aus den Statistiken und Untersuchungen hauptsächlich aus Frankreich und Großbritannien zur Verfügung steht. Bei Frankreich versucht er wie bei Großbritannien eine langfristige Herleitung der staatlichen Vermögenswerte aufzulisten. Ein Teil der Geschichte des vergangen Jahrhunderts dürfe man nicht außer Acht lassen, nämlich die Bildung von beträchtlichen staatlichen Aktiva im Industrie- und Finanzsektor. Der Glaube an den Kapitalismus war in den europäischen Ländern auf Grund des Börsenkrachs von 1929 an der Wallstreet schwer erschüttert. Die große Weltwirtschaftskrise traf die reichen Länder mit einer bis heute beispiellosen Wucht.

 

Kritik an bestimmten Zuständen und Berufsbildern und Befindlichkeiten drückt der Autor versteckt und nicht triumphal aus. Seine Distanz zu den Wirtschaftswissenschaftlern verstaut er in einer Klammerbemerkung: Die Ökonomen lieben die einfachen Geschichten, auch wenn sie nur annähernd richtig sind“. Er benennt Zwischenergebnisse seines Buches: So wenn er erst nach einem Drittel des Buches das Neue an der  vorliegenden Studie umreißt: Sie stelle den ersten Versuch dar, „die Frage des Kapital-Arbeitsverhältnisses  und des in jüngster Zeit zu beobachtenden Anstieges der Kapitalanteiles in einen größeren historischen Kontext zu stellen“, wobei der Fokus auf der Entwicklung des Kapital-Einkommens-Verhältnisses vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts liegt.

 Wichtig die Einschätzung, dass die moderne Technologie immer mehr Kapital einsetze und die vielfältigen Möglichkeiten des Kapitaleinsatzes bewirken, dass man riesige Kapitalmengen akkumulieren kann, ohne dass die Kapitalrendite völlig einbricht. Man könne manchmal meinen, das Kapitel sei verschwunden schreibt Piketty, „wir seien wie durch einen Zauberstab von einem Wirtschaftsmodell, das auf Kapital, Erbschaft und Herkunft basiert, zu einem Wirtschaftsmodell übergegangen, das auf Humankapital und Leistung fußt.“ Und da kommt wieder so ein Attribut, hinter dem er seine Neigungen leise öffnet: die feisten Aktionäre seien dank des technologischen Wandels durch eine Leistungselite ersetzt worden. Aber er warnt vor einem naiven Optimismus. „Das Kapital ist ganz einfach deswegen nicht verschwunden, weil es nach wie vor nützlich ist“.

Am Ende des zweiten Teils nun macht Piketty das, was schon der Titel des Buches erwarten lässt, der ja ganz sicher nicht zufällig gewählt ist, sondern fast schon ein Plagiat darstellt. Er untersucht die Beziehungen zwischen seinen eigenen Schlussfolgerungen und den Thesen von Karl Marx. Für Marx sei der entscheidende Mechanismus das „Prinzip der unbegrenzten Akkumulation“ gewesen, durch den „die Bourgeoisie ihre eigenen Totengräber produziert“. 

Die Kapitalisten akkumulieren immer größere Kapitalmengen, was dann zum Sinken der Profitrate (i.e. der Kapitalrendite) und schlussendlich zu ihrem eigenen Untergang beiträgt. Er bemängelt, dass die Datenlage und die Auswertung der Daten bei Marx nicht konsistent genug sind und er auch kein mathematisches Modell verwendet. Seine Prosa sei „nicht immer klar, so dass man nicht mit Sicherheit weiß, woran er gedacht hat“. Bei Marx wie auch bei allen Ökonomen des 19. Und 20. Jahrhundert war keine zureichende Vorstellung von einem strukturellen Wachstum vorhanden, das durch eine dauerhafte Zunahme der Produktivität angetrieben wird. Der dynamische Widerspruch, den Marx feststellt und der ein wirkliches Problem darstellt, kann allein durch das strukturelle Wachstum behoben werden, das erlaubt den Akkumulationsprozeß des Kapitals zu stabilisieren. Nur kontinuierliches Wachstum von Produktivität und Bevölkerung erlaube, das Gleichgewicht zu halten. 

Ansonsten, so Piketty in seiner Kontroverse mit Marx – schaufeln sich die Kapitalisten ihr eigenes Grab. Das sieht Piketty sehr scharfsichtig. Entweder zerfleischen sich die Kapitalisten, in dem sie sich gegenseitig belauern und bekriegen, um an die besten Investitionen in den Kolonien zu kommen oder es würde ihnen gelingen, der Arbeit einen immer kleineren Teil des Nationalvermögens zuzuteilen, was schließlich zu einer proletarischen Revolution und zu einer allgemeinen Enteignung führen wird. Dann kann der Kapitalismus an seinen Widersprüchen verenden. Im Band I des Kapitals zitiert Pikettty die Bilanzen einer großen Textilfabrik, die Marx von dem Eigentümer überlassen wurden. Es gab ein sehr hohes Verhältnis zwischen dem Gesamtwert des Kapitals und dem Wert der jährlichen Produktion: es lag bei über zehn. „Ein solches Kapital-Einkommens-Verhältnis hat etwas Erschreckendes“. 

Piketty – so kann man das verstehen – ist nicht der Anti-Marx, aber er geht weiter als Marx und kritisiert ihn und seine Arbeitsweise auch. Marxens Problem sei, dass er die verfügbaren Statistiken nicht systematisch auswertete. Er ging der Frage nicht nach, ob die hohe Kapitalintensität, die er in einigen Fabriken erkannte, auch für die ganze britische Industrie repräsentativ waren oder nur für diesen speziellen Sektor. Er hätte das tun können, wenn er mehrere Unternehmensbilanzen verglichen hätte. Piketty geht weiter als Marx und lässt die ideologisch-religiösen-eschatologischen Eierschalen beiseite, die bei Marx-Engels Lenin angelegt sind. Marx habe keinen Bezug genommen auf die Versuche hinzuweisen, den nationalen Kapitalstock zu schätzen, der damals in Großbritannien gemacht wurde… Marx scheint die gerade beginnende Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ganz außen vor gelassen zu haben, was umso bedauerlicher ist, als seine Annahmen über die gewaltige Akkumulation des Kapitals bis zu einem gewissen Grad hätte bestätigen und sein Erklärungsmodell präzisieren können. 

Piketty ist auf dem Niveau unserer Zeit weitergegangen, und hält sich nicht mehr bei Welterlösungskonzepten auf. Die technologischen Errungenschaften hätten das Verhältnis der menschlichen Arbeit zum Kapital aufwerten und eine Verringerung des Kapitalanteils bewirken können. Der Dritte Teil ist dann dem Phänomen gewidmet, das Karl Marx und Friedrich Engels und eine ganz große weltumspannende Bewegung versucht haben umzukehren, dabei aber gescheitert sind. Das drückt Piketty an keiner Stelle so aus, aber er beruft sich auf das gescheiterte Modell der klassenlosen freien Gesellschaft der Welt ohne nationale Grenzen. Deshalb fasst Piketty seine Bemühungen und Erkenntnisse am Ende des 2. Teils zusammen. Das moderne Wachstum, die Steigerung der Produktivität und die Steigerung des Wissens haben es geleistet, die marxistische Apokalypse zu verhindern und den Prozess der Kapitalakkumulation zu stabilisieren. Das wird natürlich von den noch real existierenden Marxisten heftig bestritten. 

Erst gegen Schluss überlegt der Autor, wie man dem manchmal skandalösen Reichtum der obersten Zehntausend beikommen kann. Nicht mal der übliche Begriff des Einkommens wird „Personen mit sehr hohen Vermögen gerecht“. Er exemplifiziert das an dem Besitzer eines Vermögens von 10 Milliarden Euro. Die Person verfügt jedes Jahr über ein tatsächliches Einkommen, das 1 Prozent ihres Vermögens von 10 Mrd. entspricht, also einem Jahreseinkommen von 500 Mio. Euro. Das von der L’Oreal-Erbin deklarierte Einkommen kam nie über 5 Mio. Euro zu liegen, das war ein Zehntausendstel des Reichtums von mehr als 30 Mrd. Euro. Das, so Piketty mit Nachdruck, habe nun in den meisten Fällen nichts mit „Steuerhinterziehung oder geheimen Schweizer Bankkonten zu tun“: „Sie rühren einfach daher, dass es selbst bei denkbar eleganter Lebensführung nicht ganz leicht ist, 500 Mio. pro Jahr zur Finanzierung des laufenden Konsums“ auszugeben. 

Deshalb sei es besser, eine progressive Kapitalsteuer einzuführen: Das Kapital sei ein besserer Indikator für den Beitrag, „den die Vermögenden leisten können, als ihr Jahreseinkommen, das sich häufig schwer ermitteln lässt“.  Und wenn man bedenkt, dass die europäischen Privatvermögen eine beträchtliche Höhe zu Beginn d es 21. Jahrhunderts erreicht haben, brächte eine progressive Steuer, „die auf die größten Vermögen eingenommen würde, nicht unerhebliche Einnahmen“. 

Und er betont, eine Kapitalsteuer könne nicht allein den Sozialstaat finanzieren, aber die „zusätzlichen Mittel, die sie einbrächte, sind alles andere als unerheblich“. Das sind revolutionäre Einschnitte, aber der Autor plädiert nicht für eine Revolution. Dieser Karl Marx des 21. Jahrhunderts ist kein Revolutionär. Er versucht klug, die Engpässe und Sackgassen des bisherigen Systems auszuleuchten und kommt dabei auf überraschend einschneidende Reformschritte. Er ist, „toute proportion gardee“(nehmt alles nur in allem), ein Reformer.

Das Buch ist von einem auch literarisch gebildeten Autor geschrieben, der immer wieder auf die symbolträchtigen und symptomatischen Romane von Honore de Balzac und Jane Austen zurückverweist. Um seine Analysen anzureichern, verweist er auf die Nudelfabrik des Pere Goriot in Balzacs Roman oder auf die Plantagen auf den Antillen von Sir Thomas in „Mansfield Park“  von Jane Austen, die Erträge von 7-8 Prozent, ja sogar noch mehr einfahren, „wenn man sehr gute Geschäfte macht“. Das hoffe auch Cesar Birotteau, als er nach seinem Erfolg im Parfümeriegeschäft im Quarteier de la Madeleine ein lukratives Immobiliengeschäft beginnen will.“ Er zitiert an den unverhofftesten Stellen Schriftsteller, die beiden Lieblingsautoren habe ich genannt, aber es sind auch andere, wie Charles Dickens, wie Henry James, wie Alexis de Tocqueville. Das macht die manchmal etwas spröde Lesemasse angenehmer und überraschender. 

Ganz zum Schluss geht es auch um die Aufgaben, die uns als Menschheit gesetzt sind mit der Klimakatastrophe. Die globale Erwärmung und die mögliche Vernichtung von Naturkapital im 21. Jahrhundert geben großen Grund zur Beunruhigung. Der Autor referiert den Report von Nicholas Stern. Stern hatte mit der Bilanz aufgerüttelt, dass die Schäden, die der Umwelt von ‚heute‘ bis zum Ende des Jahrhunderts zugefügt werden, auf Dutzende Prozentpunkte des globalen Bruttosozialprodukts pro Jahr beziffern lassen. Unter Ökonomen wurde diskutiert, „zu welchem Satz die künftigen Schäden diskontiert werden sollten“. 

Für Stern sei der Verlust des Wohls der Menschheit so groß, dass es richtig wäre, „heute schon das Äquivalent von 5 Prozentpunkten des weltweiten BIP aufzuwenden, um der globalen Erwärmung Einhalt zu gebieten“. Für den amerikanischen Ökonomen William Nordhaus müsste man einen Diskontierungssatz annehmen, der näher an der durchschnittlichen Kapitalrendite liegt. Danach würde die kommende Katastrophe sich wesentlich weniger beunruhigend darstellen. An dieser Stelle (wie an vielen anderen) bezieht der Autor Position. Er hält die Berechnungen von Nicholas Stern für vernünftiger als die von Nordhaus. Nordhaus vertrete einen  sympathischen Opportunismus, der sich mit der US-Strategie eines ungehemmten CO2 Ausstoßes verträgt. 

Deshalb meint der Autor, dass die Auseinandersetzung über Diskontierungssätze am Ernst der Frage vorbeigehe. Es müssen umfangreiche Investitionen getätigt werden, um weniger umweltschädliche Technologien zu entwickeln und erneuerbare Energien in einem Umfang zu erschließen, der ausreicht, um Kohlenwasserstoffe entbehrlich zu machen. Es gibt dem Leser noch einmal das klare Bewusstsein, dass hier ein Autor mit vielen Fragen als neuer Ökonom sich den wirklichen großen Fragen unserer Gegenwart und Zukunft als Menschheit in einer neuen Weise zugewandt hat, die weder mit der neoliberalen Schule etwas zu tun hat noch mit der klassenkämpferischen, revolutionär umstürzenden  Geschichtsfinalität der Kommunisten a la Karl Marx und Friedrich Engels.

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Quelle

Rupert Neudeck 2014 | Grünhelme 2014

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