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Kunstmann Verlag München

© Kunstmann Verlag München

Das verborgene Leben des Waldes

O Du schöner amerikanischer Wald im Tennessee. Zu der liebevollen Naturbeobachtung eines Biologen. Von Rupert Neudeck.

Ich habe seit meinen Schultagen nie etwas gelesen, was mir die Natur, den Wald, das Pflanzen, Insekten, Vogelgewimmel in ihm so plastisch, so unvergleichlich alltäglich mit Worten, begriffen, Sätzen beschrieben hat, dass sich der Leser dem heimisch gefühlt hat. Im Kapitel über die Pflanzenfresser schreibt der Autor:  Der ganze Wald scheint geradezu ein himmlisches Pflanzenfressermahl. Wieso ist das Mandala nicht kahl gefressen?“ Und durch solche Anthropomorphismen treibt er den Leser in ein immer eindrucksvolleres Erkenntnismuster dessen was da klein und groß, in der großen und kleinen Natur abläuft. „Die Insekten im Mandala können sich fast alle Teile einer Pflanze zunutze machen“. Vögel, Spinnen und Beutegreifer haben furch ihren Hunger die Macht, die gefräßigen Insekten Horden so in Schach zu halten, dass sie nicht die Populationsgröße erreichen, um ihr destruktives Potential ganz auszuschöpfen. Überall ist es wichtig, dass „Konkurrenz die Kraft ist, die die Evolution vorantreibt. “Wenn die Pflanzenfresserpopulationen allein durch ihre Räuber begrenzt werden, ist davon auszugehen, dass sich die natürliche Selektion besonders bemüht hat, die Pflanzenfresser in ihrem Kampf gegen Räuber zu unterstützen, und einiger, ihnen einen Vorteil im Wettbewerb um Futter zu verschaffen“.

Mandala, so belehrt uns der Autor, der sein Buch mit der Beobachtung zweier tibetischer Mönche beginnt, sei aus dem Sanskrit als „Gemeinschaft“ übersetzen. Mönche und Studenten steigen in das Mandala und schärfen dadurch ihren Geist. Doch die Parallele reicht noch weiter als die sprachliche Formel. Der Autor enthüllt seinen Glauben, dass eine Mandala große Waldfläche uns alle ökologischen Geschichten des Waldes erzählen kann. Vielleicht zeige sich die „Wahrheit des Waldes“ sogar noch deutlicher, wenn wir nur einen einzigen Fleck beobachten, als in Passagier-Jets ganze Kontinente zu durchrasen, oder um im Bild des Autors zu bleiben: In Siebenmeilenstiefeln ganze Kontinente zu durchwandern, von denen wir eigentlich nichts sehen.

Das Buch ist unglaublich einfach aufgebaut, der kundige biologisch und naturwissenschaftlich bewanderte Autor geht das ganze Jahr über in den Wald in den großen Wald Mandala im Südosten von Tennessee und erlebt dort alles, was wir Schmalspurökologen und neumodische Sonnen und Waldanbeter noch nicht erfahren haben. Denn der Autor ist wirklich in der Lage, das organische Pflanzen und Tierleben dort uns so vorzustellen, als seien wir selbst Akteure im Wald. Er bringt die Natur wieder zurück in den Zusammenhang mit der Menschengeschichte und tut das auf eine Art, die zu lesen ein unheimliches Erkenntnisvergnügen macht. Jedes Kapitel über das Jahr hinweg ist einem Segment des Waldes gewidmet, mal dem Moos, mal den Schnecken, mal dem Salamander. Mal dem Hirsch im Mandala, dem Wiederkäuer mit dem herrlich beschriebenen Naturphänomen des Pansen. Als Beispiel für die lustvolle Lektüre eine Stelle im Hirschkapitel. Viele Ökologen halten die aktuelle Zunahme der Hirschpopulation für eine amerikanische Katastrophe, vergleichbar vielleicht noch damit, den Pansen im Winter mit Getreide vollzustopfen. „Die Hirschzahlen steigen. Die Pflanzenpopulationen gehen zurück. Vögel, die ihre Nester in Sträuchern bauen, finden keine Nistplätze mehr“. Und dann kommt die Nutzanwendung: Wir haben die Jäger ausgeschaltet. Erst die amerikanischen Ureinwohner, dann die Wölfe, dann die modernen Jäger, die Jahr für Jahr weniger werden. Mit unseren Äckern und Städten haben wir den Wald in Streifen und Flecken geschnitten und so erst die Habitatränder geschaffen, auf denen Hirsche so gern äsen.

Und so geht es immer weiter, an manchen Stellen erreicht der Gang durch das verborgene Leben des Waldes eine Dimension von Theologie und Philosophie, die in Verbindung mit einem mit allen Wassern gewachsenen Biologen besonders eindrucksvoll wirkt. So wenn er zwischendurch den deutschen Schuster Jakob Böhme zitiert, dessen Visionen hätten ihm vieles über die Beziehung zwischen Gott und der Schöpfung verraten. Die Kraft dieser Visionen ließ ihn das Schusterhandwerk verlassen und die Karriere eines Mystikers beginnen. Böhme glaubte, dass sich die göttliche Schöpfungsabsicht in der Form der Dinge in der Welt offenbare. Und der Autor zitiert ihn während seiner Naturbeobachtung im Kapitel „Leberblümchen“: „Und ist kein Ding in der Natur, es offenbart seine innerliche Gestalt nicht auch äußerlich, denn das Innerliche arbeitet stets zur Offenbarung, und verwirklicht, wenn es gut und nützlich ist“. Danach wurde Böhme  aus seiner Heimatstadt Görlitz verbannt. Die frei schwebende Mystik und Gottversenkung war den Herrschern immer mißtrauisch. Er floh nach Prag.

Damit geht der Autor auf das verdruckste Verhältnis bis heute zwischen medizinischem Establishment und unwissenschaftlicher Quacksalberei ein. Das Establishment wetterte gegen die einfältigen Heiler vom Lande, während es zugleich die Heilpflanzen der Quacksalber enteignete und in die moderne astrologische Medizin überführte. Der Kapitelname „Leberblümchen“ macht uns darauf aufmerksam, dass wir dazu neigen, Pflanzen nach ihrem Nutzen zu benennen. Nutzen in Bezug auf Nahrung oder Medizin. Der Autor macht seinen Jahres-Spaziergang und seine Naturbeobachtung auch immer in der Absicht, sich bestätigen zu lassen, dass das Leben in der Natur und im Wald auch unabhängig von uns Menschen und von menschlichen Lehrmeinungen existiert.

Der Autor lernt bei seinen Waldgängen eines: Demut. Er entdeckt, wie sich Hunderte von winzigen Kelchen und Pilchhüten auf dem Laubboden ausbreiten. Auf jedem vermoderten Ästchen sitzen ein oder mehrere kleine Becherbüschel. Die unzähligen Arten und Exemplare, die er beobachtet erinnern ihn daran, wie viel von dem Leben des Waldes ihm verborgen bleibt. Selbst wenn wir genau hinschauen. Das größte Lesegeschenk bereitet die Sprache des Autors. Wenn man im Pilzkapitel liest: „Wenn sich zwei Pilzfäden begegnen, verfallen sie in einen raffinierten pas-de –deux und sprechen ihre Schritte mit chemischem Lebensgeflüster ab. Als Eröffnungsschritt sendet einer der Fäden ein chemisches Signal aus, um seinen Partnertyp eindeutig zu erkennen zu geben.“ Wenn der potentielle Partner zum selben Typ gehört ende der Vermehrungstanz sofort und die Fäden ignorieren sich ab jetzt, Am Ende synchronisieren die Zellen der Fäden ihre Zellapparatur und verschmelzen zu einem neuen Individuum.

Das ganze Buch ist ein aus der Sicht eines Wissenschaftlers vorgenommener Versuch, sich und den Lesern klarzumachen, dass im rein wissenschaftlichen Denken neben den großen Vorteilen auch eine Gefahr liegt. „In Ihm wird der Wald zum Tortendiagramm, werden Tiere zu mechanischen Gebilden und das Walten der Natur zu einer klugen Grafik. Mit ihrer Fröhlichkeit heute widersprechen die Hörnchen dieser beschränkten Sicht“, schreibt Haskell in dem letzten Kapitel „Baumwipfel“. Denn offenbar genießen sie die Sonne, und das sei ein Phänomen, „das im Lehrbuch der modernen Biologie nicht vorkommt.“ Und gefährlich werde das dann, wenn „wir den begrenzten Anwendungsbereich unserer wissenschaftlichen Methoden mit der vollständigen Wirklichkeit unserer Welt verwechseln“. Die Hybris dieser Wissenschaft, die der Autor teilweise selbst repräsentiert, kommt den Bedürfnissen der Industrie entgegen. „Maschinen kauft, verkauft und entsorgt man, fröhliche Verwandte nicht.“ Er berichtet, dass im Jahr seiner Naturbeobachtung, und dann noch am Heiligen Abend (24.12) die US-Forstbehörde 1200 Quadratkilometer Urwald des Tongass National Forest in Alaska, – mehr als eine Milliarde quadratmetergroße Mandalas – zum Abholzen freigegeben hat. Pfeile eines Ablaufdiagramms wurden verschoben, Holzstatistiken verändert. Die moderne Forstwirtschaft konnte nahtlos in die globalen Handelsmärkte integriert werden – Sprache und Werte mussten angepasst werden.

Der Wissenschaftler Haskell ist Wissenschaftler geblieben, aber gleichzeitig ganz aus der Haltung dieser Hybris-Wissenschaft herausgegangen. Seine Waldbeobachtung war eine Übung im aufmerksamen Zuhören und der entsprechenden geistigen Haltung. Und er fügt traurig hinzu: „Übungen im aufmerksamen Zuhören haben im Allgemeinen leider keinen Platz im universitären Lehrplan.“ Und schon wieder streift der Autor die Metaphysik oder Philosophie/Theologie, ganz gleich wie der Leser es will, in dem er sagt: „Je länger ich das Mandala beobachte, desto mehr schwindet die Hoffnung, es jemals zu begreifen und sei es nur in seiner grundlegenden Natur.“

Und, er erkennt, Mandala ist überall. Man muss nicht die exorbitant spektakulären Orte erobern. „Wir müssen nicht nach ‚unberührbaren Orten‘ suchen. An denen große Wunder auf uns warten. Gärten, Stadtbäume, der Himmel, Felder junge Wälder, ein Spatzenschwarm am Stadtrand. „Sie alle sind Mandalas. Und es ist ebenso fruchtbar, die zu beobachten wie alte Wälder.“

Es ist auch das Buch eines ernsthaften Mystikers, der nicht der Überzeugung ist, dass die ganze Schöpfung und Natur ausschließlich um unserer Weiterbildung und Weiterernährung da ist. Auf verschiedenen Ebenen beobachtet der Autor wie diese Welt auch ein bitterer Ort voller Abwehrwaffen, schwer verdaulicher Stoffe und Gifte ist. Das wüssten   übrigens auch die Habichte, die ihr Nest deshalb mit frischem Grün polstern und so Flöhe und Läuse fernhalten. Und so spontan gelingt dem Autor der leise Sprung in unsere Lebenswelt: Wenn Insekten in Behältern herangezogen werden, die mit dem Papier der New York Times ausgelegt sind, erreichen diese Insekten nicht das Reifestadium. Schuld daran sei nicht die Qualität des Lesestoffs, auch wenn Insekten zwischen Exemplaren der Londoner Times gut gedeihen. Die NYT wird auf Papier gedruckt, das Pulpe der Balsamtanne enthält. Die Tanne produziert einen chemischen Stoff, der die Hormone pflanzenfressender Insekten nachahmt und die Tanne so davor bewahrt, von ihren Feinden verkrüppelt und kastriert zu werden. Die Londoner Times dagegen wird aus Bäumen hergestellt, denen jene hormonelle Abwehrwaffe fehlt. Ihre gedruckten Pulpenreste sind für die Aufzucht von Laborinsekten ein sicherer Hort.

Haskell bestürmt uns mit der Frage, wie die Pflanzen die Angriffe der Pflanzenfresser überleben. Aber es gäbe auch die Frage, wie die Pflanzenfresser mit den giftigen Pflanzen zurechtkommen. Und dann kommt wieder ein Satz aus dem dramatischen Bericht des Autors über all das, was sich im Mandala abspielt. „Der biochemische Schwertkampf zwischen Pflanzen und Herbivoren hat im Mandala zu einer angespannten Pattsituation geführt. Noch hat keine Seite den Sieg davongetragen“.

Und im Kapitel mit dem Jahresdatum 25. Mai „Leise Wellen“ entpuppt sich der naturwissenschaftliche Mystiker vollends. Es geht noch einmal um Malaria. Diese Gefahr schwebte noch vor kurzer Zeit über dem Mandala. In den Speicheldrüsen der Mücken residierte ein Malariaerreger, der nicht auf Vögel, sondern auf Menschen wartete. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts starben im Süden der USA ungefähr ein Prozent an Malaria, in den Sümpfen des Mississippidelta sogar drei Prozent. Der Malaria wurde erst in diesen Jahrzehnten besiegt. Man verteilte gewaltige Mengen an Chinin zur Behandlung der Kranken, förderte Mückengitter an Türen und Fenstern. Man legte Sümpfe und Teiche trocken, um den Mücken die Brutstätten zu nehmen.

Der Mystiker Haskill meint: Ein Mückenstich, ein Atemzug oder ein herzhafter Bissen werden nicht als Handlungen anerkannt, die uns mit dem Leben verbinden. „Einige Menschen sprechen vor jeder Mahlzeit ein Tischgebet. Doch niemand danke für jeden Atemzug oder einen Insektenstich. „Die Beziehungen, die durch die Millionen von Molekülen entstehen, die wir essen, atmen oder an Mücken verlieren sind, so zahlreich und komplex, dass wir gar nicht erst versuchen, sie zu verstehen“. Man kann das auch so leben: Es wird uns bei einer Notwendigkeit, uns stärker und geschwisterlicher der Natur zuzuwenden schon gelingen, diese Beziehungen stärker zu beachten, um sie dann vielleicht in einer neuen Epoche zu verstehen.

Überall werden Partnerschaften geschlossen in der Natur, nicht nur in der Menschen-geschichte. Vereinigung, Verschmelzung. Auch unser Baum des Lebens ähnelt in seinen tiefsten Schichten einem eng verwobenen Geflecht oder einem Delta, indem sich unzählige Flussläufe kreuzen. Man kann das Buch nicht ausschöpfen. Es bringt uns auf ganz neue, wegweisende Gedanken, an denen die Philosophie, die Kirchen, die Ideologien noch nicht beteiligt waren. „Unser Leben wurde durch anderes Leben in uns ermöglicht“. Wir sind Matroschkas. Bei den russischen Puppen kann man die einzelnen Teil-Puppen auseinander nehmen, doch unsere menschliche Zell- und Genhelfer sind untrennbar mit uns verbunden – und wir mit ihnen.

David G. Haskell: Das verborgene Leben des Waldes. Ein Jahr Naturbeobachtung – online zu bestellen!

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