Den Kalten Krieg denken
Atomkrieg heute noch zu denken? Zur sozialen Ideengeschichte in den 60er und 70er Jahren. Wie konnte man im Kalten Krieg leben? Von Rupert Neudeck
Es ist vielleicht ein sehr tröstliches Buch, weil es uns deutlich macht, dass der Atomkrieg so wie er in den 50er und 60er Jahren gedacht wurde, nicht mehr möglich ist zu denken. Die Entwicklung von den strategischen zu den taktischen Atombomben war so rasant, dass man sich den Krieg ohne diese Atomwaffen gar nicht mehr vorstellen konnte. Das historische Datum war der 5. Juni 1953, als der damalige Nato Befehlshaber General Ridgway den deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer im Beisein von General Heusinger fragte, „ob es Vorbehalte gegen die Stationierung von US-Artilleriegeschützen in Westdeutschland gäbe, die man auch zum Abschuss von taktischen Atomgranaten benutzen konnte“?
Adenauer stimmte in dieser heißen Zeit (Koreakrieg) sofort zu, er verstand nur, dass mit dieser Maßnahme eben mehr amerikanische Streitkräfte in Europa stationiert würden. Zwar gab es damals schon die Gleichung: Je mehr Bundeswehr, desto weniger Atomwaffen, aber die Strategie gegen die Atombewaffnung zu führen, bedeutete das noch lange nicht. Der Beitrag in dem Sammelband von Bruno Theiß weist dennoch am Ende auf erhebliche Bedenken bei den Verantwortlichen des damals gerade aufgebauten deutschen Heeres hin: Es würden sich Dramen ungeahnten Ausmaßes im Falle eines Atomkrieges abspielen. Der erste General im Führungsstab der Bundeswehr, der Einblick in die NATO-Atompläne bekam, Brigadegeneral Albert Schnez, hielt die Durchführung dieser Pläne für das Ende der deutschen Nation, vielleicht auch Europas. Der paradoxe Fall würde eintreten: Teile der Armee würden überleben. Die Nation werde letztlich vernichtet. „Der Sieg der freien Welt über die Unfreiheit“ würde über ein „Golgatha des deutschen Volkes“ führen.
Der Sammelband hat drei Hauptteile. Im ersten wird der Versuch gemacht, das „Atomzeitalter“ zu denken. In einem Beitrag wird des Antiatomkriegsphilosophen Günther Anders gedacht. Der zweite Hauptteil versammelt Beiträge, die die militärische und die zivile Verteidigung reflektieren. Es sind Beiträge aus französischer Sicht über die französischen Kriegstheoretiker und die Entwicklung von Atomkriegs-Konzepten 1945 – 1960. Ein anderer Beitrag stellt das Konzept des britischen Zivilschutzes in dieser Phase heraus. „Zwischen Patriotismus und Freizeit 1949 bis 1954“. Daniel Gerster beschreibt die klassisch-theologische Lehre vom gerechten Krieg und wie das Konzept eingeschmolzen wurde durch die Herausforderung eines Atomkrieges in transatlantischer Perspektive. Der dritte Hauptteil gilt der Materialität, in der der Weltkrieg zu denken ist.
Der Schlachtenlärm in den Wandelhallen der Katholischen Kirche und Theologie ist nach dem Ende des kalten Krieges erst mal verstummt. Der wütende katholische Antikommunismus führte bei dem Berater des Papstes Pius XII., dem Pater Gustav Gundlach zu Folgerungen, die man heute nur mit Kopfschütteln quittieren kann. Sogar für den Fall, wo nur noch eine Manifestation der Majestät Gottes und seiner Ordnung, die wir ihm als Menschen schulden, als Erfolg bliebe, „ist Recht und Pflicht zur Verteidigung allerhöchster Güter denkbar“. Das kann man heute kaum begreifen: Ja, fügte Gundlach hinzu, selbst wenn die Welt untergehen sollte, „dann wäre das kein Argument gegen unsere Argumentation“. „Unsittlich“ werde der Gebrauch der Atomwaffe nur, wenn die Herrschenden von „perversem Herrscherwillen“ getrieben würden Für die damalige Pius-Theologie galt das nur für den bolschewistischen Machtbereich.
Wie wenig die unbedingte Gefährdung menschheitlichen Lebens damals trotz Hiroshima erkennbar war, zeigt selbst das gegen Gundlach gerichtete Gutachten von sieben katholischen Moraltheologen, die im Mai 1958 auf Anregung des „Zentralkomitees deutscher Katholiken“ eine Erklärung zu einer deutschen Atombewaffnung gegeben hatten. Im Fall von „taktischen Atomwaffen“ sei nach „gewissenhafter Sachkenntnis“ diese Kontrolle garantiert und gegeben, bei „strategischen“ nicht, die deshalb verboten seien. Damit waren die Theologen weit hinter der damals schon möglichen Erkenntnis zurück, die in dem Urteil der 18 Göttinger Professoren aufleuchtete. 1957 hatten die Göttinger vor den verheerenden Folgen von taktischen Atomwaffen gewarnt. Gerechterweise geht der Beitrag von Daniel Gerster auf die letzte Wendung des Papstes Pius XII. ein, der sich am Ende seines Pontifikats die Frage stellte, ob die nukleare Bewaffnung überhaupt kontrollierbar sei? Die wiederholten Testversuche mit Atomwaffen hatten das Augenmerk auf die gesundheitlichen Risiken gelegt. Der Papst warnte in einem Telegramm vom April 1957 vor den „unmittelbaren, ungeheuren Schäden und letzten biologischen Wirkungen auf lebende Wesen durch diese Waffen“.
Die Position von P. Gundlach SJ blieb bei Rechts- wie Linkskatholiken nicht unbestritten. Der der SPD nahestehende katholische Staatsrechtler Ernst Wolfgang Böckenförde und Robert Spaemann betonten 1958: Der Papst habe weder ein Verteidigungsrecht um jeden Preis gelehrt, noch gesagt, dass es auf Kontrollierbarkeit der Kampfmittel nicht ankomme, noch dass zur Verteidigung höchster Güter der Weltuntergang in Kauf genommen werden könne. Eine regelrechte Wende gab es erst unter Papst Johannes XXIII, der 1963 in „Pacem in Terris“ das Augenmerk auf den Ernstfall Frieden legte und die Ressourcenverschwendung für Rüstung beklagte. Wie Immanuel Kant erklärte der Papst: Darum widerstrebe es in unserem Zeitalter, „das sich rühmt Atomzeitalter zu sein, der Vernunft, den Krieg noch als geeignetes Mittel der Wiederherstellung verletzter Rechte zu betrachten“.
Claudia Kemper macht in Ihrem Beitrag auf die sensationelle weltweite Bewegung aufmerksam, die als Folge einer amerikanischen Initiative gegründet wurde, die sich mit russisch-sowjetischen Ärzten verbündete und sich in allen Ländern dank der humanitären und humanistischen Verpflichtungen von Ärztinnen und Ärzten ergab. Die sog. IPPNW, die „International Physicians fort he Prevention of Nuclear War“ wurde eine immer wirkungsvollere Friedensplattform und ist es bis heute geblieben. Die US-Gründungsinitiative ging noch auf das Jahr 1980 und den Kardiologen Bernard Lown aus Boston zurück, während sich die bundesdeutsche Sektion 1982 gründete. Diese Bewegung darf neben Greenpeace als die vielleicht mächtigste globale Bürgerinitiative gelten, die für den Frieden weltweit eingetreten ist und immer neue Formen des gewaltfreien Widerstands ausprobiert hat.
In Deutschland hatte diese Bewegung namentlich durch die forcierte Sprecherschaft des mächtigen und einflussreichen Horst-Eberhard Richter sehr viel erreichen können. Die Frankfurter Erklärung vom 8. Mai 1982 war geradezu ein Gegenpapier zu den Plänen der Bundesregierung. Richter hatte damals erklärt: „Ich halte alle Vorkehrungen für gefährlich, die auf das Verhalten im Kriegsfall vorbereiten sollen“. Er lehne deshalb als Arzt auch jede Fortbildung in Medizin ab und werde sich nicht daran beteiligen. Das war ein ganz starkes und bis heute nicht zu überhörendes humanitäres Trompetensignal.
Besonders wertvoll der Beitrag über den großen Philosophen und Apokalyptiker des Kalten Krieges und der Atombomben, Günter Anders. „Zeitbomben mit unfestgelegtem Explosionstermin“ ist der Beitrag von Christian Dries überschrieben. Dort erfährt man, dass die Politik und die Umweltbewegung sich schon viel früher ein Beispiel hätte nehmen sollen an den fast eschatologischen Auslassungen und Büchern von Günter Anders. Als permanente Bedrohung verharren Bombe und Reaktor mehr oder weniger in der Potentialität. „Die in ihnen inkarnierte hoch tödliche Handlungsmacht ..wird nur im Ernstfall respektive GAU explizit.“ Dennoch hielt schon damals Günter Anders die Unterscheidung zwischen Kriegerischer und sogenannt friedlicher Nutzung der Atomkraft für „töricht und betrügerisch“.
In keinem Denker der Neuzeit haben die Gefahren der Nuklearwaffen und der Nuklearenergie einen so seismographischen Ausdruck gehabt wie bei Günter Anders. Er war in der Lage, die blasphemischen Konsequenzen auszuloten, die in dieser Erfindung steckten. Dass die erste Testzündung in der Wüste von Mexiko den biblischen Namen „Trinity“ bekam, lässt schon auf ein Ereignis von blasphemischer Dimension schließen. Dieser erste Schritt in die eschatologisch anmutende Vernichtungslagerwelt fand am 16. Juli 1945 statt, 05.29 Uhr Ortszeit in der südwestamerikanischen Ödnis. Die erste Atombombe mit einer Sprengkraft von 21 Kilogramm TNT-Äquivalent detonierte, tausend Mal heißer als die Oberfläche der Sonne.
„Drei Wochen später begann das atomare Endzeitalter der global entgrenzten, totalen Inklusion auch für den Rest der Welt“. Für Anders galt die eigentliche Gefahr von heute in der „Unsichtbarkeit der Gefahr“. Es gelte sie wieder sichtbar zu machen. Dabei sind wir ein paar Schritte vorangekommen, aber noch lange nicht alle. Die Gefahr dräut weiter unsichtbar.
Wie menschliche und Naturgeschichte an ein Ende kommen, belegt der beängstigende aber klarsichtige Beitrag von Florian Sprenger. Das Problem der Endlagerung lässt sich nicht lösen. Zehntausend Jahre lang – so die Vorgabe des US-„Department for Energy“ muss man radioaktiven Müll sicher lagern. Und zwar ganz gleich, ob der Müll aus den Atomkraftwerken, der Rüstungsindustrie oder der Medizin herrührt. Die Amerikaner begannen 1987 mit der Arbeit am „Waste Isolation Pilot Projekt“ in den Yucca Mountains in Nevada, in dem Mitte des 21. Jahrhunderts sämtlicher Atommüll der USA aufgenommen werden sollte. 2010 wurde das Projekt von der Regierung unter Barack Obama ´wegen massiven Sparzwängen abgebrochen. Begründet hat das die Administration Obama mit der Hoffnung auf neue, noch unbekannte Verfahren, die es in Zukunft möglich machen könnten, radioaktiven Abfall in Energiezyklen einzuspeisen. Was aber nicht in Sicht ist.
Das Ganze hat existenzphilosophische Auswirkungen nicht nur für das Individuum, sondern für die Gattung Mensch. Wenn man ein Grab für Müll errichten will, ist das kaum noch ein Grab in unserem Verständnis des griechischen Wortes sema. Das Grab gehört zu den ersten Zeugnissen der Menschheitskultur. Ein Grab zeigt, dass es ein Grab ist und dass sein Ort besetzt ist. Der Anspruch eines Atommüllendlagers an die Zukunft würde bedeuten, nicht zu graben. Ihm soll der Grund des Grabens entzogen werden. Dieses Problem wird uns zu unseren Lebzeiten nicht mehr aus den Klauen lassen. Das Buch ist eine gute Aufarbeitung aller Aspekte, die mit der Apokalypse zusammenhängen, unterhalb derer ein Krieg gar nicht mehr zu denken ist.
Es fehlt ein Beitrag über den zweiten Eschatologen und Kriegs und Atomgegner unter den Schriftstellern, namens Heinrich Böll, der dieses Ereignis ähnlich wie Günter Anders mit dem Begriff Blasphemie belegt hätte: „Blasphemie ist Gotteslästerung“.