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Die unerschöpfliche Kraft des Einfachen

Während Einfachheit in den modernen Gesellschaften fast ein Fremdwort geworden zu sein scheint, ist die asketische Lebensform keineswegs nur eine zeitlich und räumlich ferne Erscheinung. Einfachheit ist vielmehr die ständige Begleiterin verschwenderischer Fülle und (Über-)Sättigung. Ein Buch über das genügsame Leben – ein Buch zur rechten Zeit? Hier eine Einschätzung von Professor Udo E. Simonis

Mit einem kunstvoll gedrechselten Satz beschreiben die Herausgeber das Anliegen dieses wunderbaren Buches: „Zivilisierte Gesellschaften haben stets auch den Verdacht genährt, dass die lichten Segnungen kulturellen Fortschritts eine düstere Kehrseite haben, die dem menschlichen Wohlbefinden mehr schadet als nützt“. Deshalb wollen sie Stimmen von Weisen aller Zeiten sammeln, die vor Verkünstelung, Hektik und Übermaß warnten und das Hohelied der Einfachheit sangen. Mehr als 70 unterschiedlich lange, historische Dokumente (Primärtexte) wurden dafür ausgewählt und durch drei umfangreiche Essays der Herausgeber ergänzt (Sekundärtexte), mit denen sie diesen geistigen Schatz für die Gegenwart erschließen wollen. Ein Glossar über die Autoren, Schulen und „heiligen Texte“ runden das Werk ab.

Die Herausgeber begründen ihr Anliegen mit einer starken Ausgangshypothese: Während Einfachheit auf den ersten Blick in den modernen Gesellschaften fast ein Fremdwort geworden zu sein scheint, sei die asketische Lebensform keineswegs nur eine zeitlich und räumlich ferne Erscheinung; viele Indizien belegten vielmehr, dass sie eher ein zeitloser Ausdruck einer Sehnsucht nach Entflechtung sei, einer Entflechtung vom „Rad der Gier, auf das wir geflochten“ (Buddha in den Worten von Bertolt Brecht). Einfachheit sei die ständige Begleiterin verschwenderischer Fülle und (Über-)Sättigung – und sei es auch nur in geistiger Vorwegnahme dieser Befindlichkeiten (S.9).

Vor diesem hypothetischen Hintergrund spricht viel dafür, die Lektüre des Buches mit den Essays der Herausgeber zu beginnen. Peter C. Mayer-Tasch beschreibt seinen Zugang zum Thema als „Jungbrunnen und Himmelsweg“ (S. 283-308); Bernd M. Malunat sieht „Askese als Alltagshygiene“ (S. 309-341) und für Franz-Theo Gottwald geht es um die Perspektive „Vom Wachsen zum Reifen“ (S. 343-364). Mit diesen umfangreichen Essays werden wir mitten hinein in die vielfältigen ökonomischen, sozialen und ökologischen Probleme der Gegenwart geführt, auf die hin die vielen von der „Achsenzeit“ (Karl Jaspers) bis zur Schwelle der Gegenwart reichenden literarischen Zeugnisse, wie aber auch zahlreiche Mäßigungs- und Fitnessempfehlungen unserer Tage ausgewählt worden sind.

Wie aber sich der Fülle der diesbezüglichen Möglichkeiten stellen? Die Herausgeber trennen die Primärtexte in drei Teile, die jeweils vom Mayer-Tasch eingeleitet werden: „Askese des Leibes“ (Teil I), „Askese des Geistes“ (Teil II) und „Askese im alltäglichen Miteinander“ (Teil III). Die Inzuchtnahme des Leibes durch Mäßigung ist zumeist das Erste, woran gedacht wird, wenn von Askese die Rede ist. Diese „Übung“ (askesis) galt im antiken Griechenland in erster Line der Vorbereitung auf sportliche Höchstleistungen. In Zeiten des wirtschaftlichen Wohlstandes mussten sich vor allem die Oberschichten dieser Sinn- und Zweckhaftigkeit vergewissern, um „fit“ zu bleiben. Die hierzu ausgewählten Zeugnisse und Empfehlungen sollen zeigen, dass sich an der – zumindest periodischen – Tunlichkeit solcher Übungen über die Jahrhunderte hin nichts grundsätzlich geändert habe. 37 diesbezügliche Texte finden sich im ersten Teil, die von Teilhard de Chardin über Henry David Thoreau, Mohammed, die Manichäer, den Jainismus bis hin zu einer umfangreichen Abhandlung von Luigi Cornaro über das genügsame Leben (S. 30-58) reichen, die extra für diesen Band (von Peter C. Mayer-Tasch und Ulrike Schievelbein) aus dem Italienischen übersetzt wurde.

Dem materialistischen Credo der neuzeitlichen Sensualisten setzt der philosophische Realismus die Überzeugung einer „Schöpfung aus dem Geiste“ entgegen: Die Anregung oder Verführung zu Grenzüberschreitung und Maßlosigkeit als auch die Eingrenzung oder Auslöschung von Wünschen und Begierden werde im Geiste vorbereitet. Die für den zweiten Teil des Buches dazu ausgewählten 21 Zeugnisse einer Askese des Geistes sollen zeigen, dass auch im Blick auf diese „Übung“ in der Geschichte vielfältige Vorstellungen und Überzeugungen aufgeboten worden sind, um dem – je nach Weltbild variierenden – Ziel des geistig-seelischen Wohlbefindens gerecht zu werden. Die betreffenden Texte reichen von Hermann Hesse über Rudolph Steiner, Arthur Schopenhauer, Epikur, Lao-tse und Buddha bis zu umfangreicheren Textteilen von Friedrich Nietzsche (S. 134-151 aus „Also sprach Zarathustra“).

Im Alltag können sich die „Askese des Leibes“ und die „Askese des Geistes“ in vielfältiger Weise begegnen: als individuelle Übung, aber auch als gesellschaftliche Praxis. Mayer-Tasch beschreibt es so: Wer es gelernt hat, sich selbst im Zaun zu halten, wird im sozialen Miteinander erfolgreicher sein als jener, der sich dieser Übung des guten Benehmens nicht zu unterziehen bereit ist. Wer sich selbst zurücknimmt, wird von anderen leichter angenommen. Ein freundliches Wort öffnet Tore, wo ein überflüssiges kritisches Wort sie verschlossen hat. Doch wie die Alltagserfahrung zeigt, wird nicht jedes Wort behutsam gesetzt, allzu oft mangelt es an der nötigen Gelassenheit. Höflichkeit und Freundlichkeit können (nein: müssen) zum Ausgangspunkt mitmenschlicher Verständigungsbereitschaft werden.

Dass dieser Weisheitspfad seit Menschengedenken gesucht und abgesteckt wurde, sollen die Texte im dritten Teil des Buches zeigen, die aus den morgen- und den abendländlichen Kulturkreisen stammen. Auch wenn die Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte diesem Weisheitspfad nicht gefolgt ist, so habe sich doch, sagt Mayer-Tasch, an seiner zielführenden „Kraft und Herrlichkeit“ über die Zeiten hinweg nichts geändert. 15 diesbezügliche Texte sollen dies belegen, die von Albert Schweitzer, Max Weber, Jesus von Nazareth und Buddha bis zu längeren Passagen von Freiherr von Knigge (S. 248-257) reichen. Auf besonders eindrucksvolle Weise belegt dies der Text des amerikanischen Schriftstellers Max Ehrmann, der ihn zwar auf das Jahr 1692 rückdatiert hatte, in Wirklichkeit aber 1927 an die St. Paul’s Church in Baltimore, Maryland, anschlug und damit die Flower-Power-Bewegung der 1960er Jahre beflügelte. In diesem „Baltimore-Text“ spiegelt sich die Quintessenz dessen, was „Askese im alltäglichen Miteinander“ bedeuten kann (hier nur in Auszügen):

Gehe ruhig und gelassen durch Lärm und Hast und sei des Friedens eingedenk, den die Stille birgt.

Stehe, soweit ohne Selbstaufgabe möglich, in freundlicher Beziehung zu allen Menschen.

Äußere Deine Wahrheit ruhig und klar und höre anderen zu, auch den Geistlosen und Unwissenden; auch sie haben ihre Geschichte.

Meide laute und aggressive Menschen; sie sind eine Qual für den Geist.

Freue Dich Deiner eigenen Leistungen wie auch Deiner Pläne.

In Deinen geschäftlichen Angelegenheiten lasse Vorsicht walten, denn die Welt ist voller Betrug. Aber nichts soll Dich blind machen gegen gleichermaßen vorhandene Rechtschaffenheit.

Ertrage freundlich und gelassen den Ratschlag der Jahre; gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf.

Was auch Deine Arbeit und Dein Sehnen sei, erhalte Dir den Frieden mit Deiner Seele in der lärmenden Wirrnis des Lebens. Mit all der Schande, der Plackerei und den zerbrochen Träumen ist es doch eine schöne Welt.“

Fazit: Man braucht Zeit und auch Geduld, um sich alles zu erschließen, was dieses umfangreiche Buch bietet, das auf viel Wissen und Erkenntnis, auf unendlich viel Arbeit und sorgfältiger Auswahl beruht. Wem dies gelingt, für den geht auch der spezielle Wunsch der Herausgeber in Erfüllung, eine Ermutigung für all jene zu bieten, die ihren Teil zur Korrektur eines ressourcenintensiven und umweltbelastenden Lebensstils beitragen möchten, der absehbar keine Zukunft hat.

Franz-Theo Gottwald, Bernd M. Malunat, Peter C. Mayer-Tasch (Hrsg.) „Die unerschöpfliche Kraft des Einfachen“

Springer VS
Quelle

Udo E. Simonis 2016 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Redakteur des Jahrbuch Ökologie

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