Engagiert Euch!
Der Aufruf zum Widerstand wird noch präziser – und kürzer. Von Rupert Neudeck
Nach der Lektüre, die nur eine gute Stunde beansprucht, denkt man sich: Das wäre die Rettung Europas. Wenn sich der deutsch-jüdische Franzose Stephane Hessel mit dem polnischen Publizisten Adam Michnik, dem türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk, dem Franzosen-Deutschen Daniel Cohn-Bendit und dem Oberbürgermeister von Tübingen Boris Palmer zusammentun und die neue Europäische Bewegung ausrufen würde, das wäre ein neuer Beginn für den Kontinent.
Irgendwie wartet doch die neue Generation auf ein zündendes Zeichen, ja auf das, was für die Generation nach dem Ersten Weltkrieg die Mobilisierung 1936 für die republikanische Regierung in Spanien war.
Das Büchlein lebt davon, dass wir diese Bewegung nicht mit den etablierten Parteien bekommen werden. Da geht es dann wie mit Sarkozy und dem nationalen Umweltgipfel: „Es steht zu befürchten, dass sie kein wesentliches Anliegen von Präsident Sarkozy sind. Er verfolgt andere Ziele – z.B. 2012 wiedergewählt zu werden“.
Und das könnte ja für alle Regierungen Europas gesagt werden wie für alle Parteien. Sie machen ihre Macht-Spielchen, aber es sind keine Vorbilder mehr dahinter. Er habe sich seit jeher, so Stephane Hessel in dem Gespräch mit dem Journalisten Gilles Vanderpoorten, als Sozialist betrachtet, weil er dort seine Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit beheimatet fühlte.
„Aber den Sozialisten fehlt es an Schwung“. Er erhoffe sich eine mutige, wenn nötig aufsässige Linke, die „visionär und freiheitlich denkt, und dazu in den Institutionen genügend Grüne, die darauf achten, dass die Lebensgrundlagen auf unserer Erde bewahrt werden“.
Er macht sich solidarisch gemein mit denen in Frankreich, die eine starke ökologische Komponente in die Europapolitik eingebracht haben. Neben dem rauschhaften Ereignis, das er selbst miterlebt hat und von dem mit Zuversicht zu reden er nicht aufhören kann, der Verkündung der Charta der allgemeinen Menschenrechte am 10. Dezember 1948 durch 48 Staaten damals – verlangt er jetzt eine „Allgemeine Erklärung der Rechte der Natur“.
Aber die Staaten sträuben sich, auf Souveränitätsrechte zu verzichten. Das alles existiert nur in der Zukunft, „insoweit Staaten bereit sind, es ihrer Einzelsouveränität überzuordnen“. Deshalb müsste eine zukünftige Partei und Bewegung in Europa über den nationalen Souveränitäten stehen.
Für ihn gibt es als jemanden, der schon fast ein Jahrhundert gelebt hat, die Forderung, nicht der Resignation Raum zu geben. „Das eigentliche Problem ist die Überwindung der Hoffnungslosigkeit“.
Unsere Erde werde von Resignation ebenso bedroht wie vom sauren Regen und zu viel CO2 Ausstoß: „Zu spät, alles verbockt, nicht mehr zu machen. Wir sind verloren.“. Hessel ist nicht müde zu sagen, dass auch diese schwierigen Probleme gelöst werden können.
Die klare kompromisslose Vision muss dabei dominieren: „in globaler Sicht muss unser Wohlstandsgewinn sehr viel mehr als bisher aus kulturellen, spirituellen, ethischen statt bloß materiellen Gütern oder spekulativen Finanzprodukten bestehen“. Für ihn ist das ganz klar, was kein Politiker, der 2012 oder 2013 wiedergewählt werden will, in den Mund nimmt: „Wir müssen Schluß machen mit diesem Wachstumsfetischismus des ’Immer noch mehr“.
Der große alte und junge Mann hat die Hand am Puls der Zeit. Nein, eine neue Weltrevolution zu machen ist uns ausgetrieben worden. Er sei 1917 geboren. Da begann eine allumfassende Befreiungs- und Friedens-, geradezu eine Erlösungsrevolution. Was ist daraus geworden? „Ich habe die Überzeugung gewonnen, dass revolutionäre Gewaltakte gegen die bestehende Ordnung keinen geschichtlichen Fortschritt bringen“.
Lyrisch und pathetisch wird er, wenn er sich an den 10.12. 1948 erinnert, als 48 Staaten im Pariser Palais de Chaillot für die Aufnahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stimmten. Noch nie zuvor war von „Menschenrechten“ im Weltmaßstab die Rede gewesen. „Zum ersten Mal erschien vor unseren Augen die Weltgesellschaft als einheitliches Gebilde.“
Aber wie grausam haben wir diese Menschenrechte misshandelt. Jeder hat das Recht (Art 13), „jedes Land, einschließlich seines eigenen zu verlassen und in sein Land zurückzukehren“. Diese Rechte – das weiß der optimistische Realist Hessel sehr gut – wurden häufig missachtet, „auch von den sog. demokratischen Ländern.“
Doch am Ende dieser Lektüre möchte man eine Bewegung in Europa und der Welt sehen, mit diesem Stephane Hessel an der Spitze. Dem wünscht man dann wie die Polen sagen: „sto lat“, hundert Jahre. Und in diesen sieben Jahren (bis zu dem Tag, an dem Hessel 100 Jahre alt wird) sollte diese Bewegung entstehen, optimistisch und realistisch.
So wie er zum Schluss sagt: „Ja, ich glaube an den Menschen. Gewiss dieses Tier ist gefährlich und kann alles kaputtmachen. Aber es ist unglaublich begabt, sich etwas einfallen zu lassen, wenn es auf neue Probleme stößt.“
Wohlan denn, wir würden bei Stephane Hessel mitmachen.
Quelle
Rupert Neudeck 2011Grünhelme 2011