Selbst Denken – Eine Anleitung zum Widerstand
Kein moralischer Konsum. Zu einem glänzenden Aufruf zum Widerstand. Von Rupert Neudeck
Das Buch geht in seiner Ehrlichkeit, mit der sich auch der Autor selbst einbringt, bisher am weitesten im Rahmen von vergleichbaren umweltaktivistischen Büchern. Der Titel ist eine Provokation und keine ganz neue Herausforderung. Es ist die Neuformulierung des Sapere aude, des Satzes von Immanuel Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Das Selbstdenken ist somit auch die Anleitung zum Widerstand. In dem Kapitel „Protest“ beschreibt der Autor: Im Protest gegen die Atomkraft erhielt die deutsche Ökobewegung ihre politische Signatur. Man integrierte in dieser Bewegung Haltungen gegen die rücksichtslose Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen, liberale gegen den Polizeistaat, ökologische und zugleich konservative gegen die Hybris von Großtechnologie.
Dabei habe er, mittlerweile ordentlicher (was für ein Wort?) Professor an einer deutschen Universität, gelernt, dass die „politische Sozialisation primär nicht über Inhalte, sondern über die Gemeinsamkeit von Erfahrungen“ geht. Er habe keine Sekunde Angst gehabt, im finalen Atomschlag vom Typ Dr. Seltsam zu verdampfen, aber es sei eine wichtige Erfahrung, „zusammen mit anderen gegen etwas erfolgreich sein zu können“.
Es sind klar umrissene gute Anweisungen für den Widerstand. Der Autor scheut sich nicht, jeden ins Gebet zu nehmen. In dem zweiten der insgesamt zwölf Imperative, die das Buch abschließen, heißt es: „Es hängt ausschließlich von ihnen ab, ob sich etwas verändert“. Und der Autor exemplifiziert das an gelungenen und misslungenen Beispielen. Seine Kritik hört ja nicht am Eingang zur Öko- und Naturbewegung oder vor dem Büroturm von Greenpeace auf. So bewundert und kritisiert er das „Campaigning“ von Greenpeace, was zwar eine Menge erreicht, zumal eine Menge an Spenden, Geld, Weltaufmerksamkeit usw.; aber es oft mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Greenpeace erreichte den Gipfel seines Erfolg mit dem Protest gegen ein ökologisch nicht so problematisches Unternehme von Shell: Die Versenkung der Öllager Plattform „Brent Spar“, die 1995 erfolgen sollte. Das führte wegen des behaupteten Skandals zu einem Boykott von Shell-Tankstellen. Das zwang Shell schließlich, die Plattform in einem aufwendigen Verfahren an Land zu entsorgen. Es stellte sich heraus, dass Greenpeace von falschen Zahlen ausgegangen war. Es gab nicht 5.500 Tonnen Öl in der Plattform, sondern nur 70 – 100 Tonnen. Unter ökologischen Gesichtspunkten wäre die vorgesehene Versenkung sinnvoller gewesen.
Der Autor nennt das in Anlehnung an einen Begriff des Soziologen Nico Stehr die „Moralisierung der Märkte“. Es führe das nicht zum politischen Protest und damit der Änderung unseres Verhaltens, sondern nur zu einer politisch motivierten anderen Konsumentscheidung. Der ökologisch angetriebene Autofahrer fährt an der Shell Tankstelle vorbei und tankt bei Esso, Aral oder Jet. Welzer: „Auf diese Weise kann er protestieren, ohne jene Mobilität einzuschränken, die der Grund für die Existenz von Ölbohrinseln und Lagerplattformen ist“.
Das könnte eine gute Debatte über den Sinn von ökologischem Widerstand abgeben. Welzer sagt mit guten Argumenten. Die Rede vom moralischen Konsum sei nicht viel mehr als Ideologie. Diese Ideologie entspricht der Freiheit des Nilpferdes im Zoo, sich lieber von dem einen als dem anderen Wärter füttern zu lassen. Wolfgang Ullrich hat die Formel geprägt, die Welzer übernimmt: Moralischer Konsum sei meist nur Konsum von Moral.
Der Konsumismus hatte immer schon die Kraft, jede Gegenbewegung zu vereinnahmen. Das mussten die system-anarchische Punkbewegung und ihre wichtigste Band, die „Sex Pistols“ erfahren, als sie bemerkten, wie ihre Symbole der Selbstverstümmelung in modische Accessoires von Gucci und Versace transformiert und auf diese Weise unkritisch gemacht wurden.
In diesem Buch kann der Autor allerdings auch einer modisch –semantischen Tendenz nicht entgehen, Bewegungsgesetze der Moderne unvermittelt englisch zu benennen. In einem Fall haben wir es geschafft das englische Wort zu verdeutschen, es klang ja auch verdammt gut. Sustainability wurde Nachhaltigkeit und hat eine unglaubliche Sprach-Karriere angetreten. Es wurde geradezu das Nummerngirl der Ökobewegung hier und anderswo. Kein politischer Text durfte mehr ohne das qualifizierende Attribut herausgehen. Auch darin geht der Autor einen radikalen Schritt vorwärts.
In dem Kapitel „Selbstentmündigung in grün“ schreibt er. Ein unschuldig daherkommender Fruchtjoghurt könnte sich als „ökologische Katastrophe outen, die er hinsichtlich der Transportaufwendungen, seiner Klimawirkungen und Entsorgungsprobleme ja ist“. Der Käufer könnte ja sehen, dass der „echte Preis nicht 0,39 Euro sein kann, sondern unter Einrechnung aller externalisierten Umweltkosten 1,89 Euro.
Der Käufer kann auch sein Smartphone dieselben Berechnungen an dem danebenstehenden Konkurrenzangebot durchführen lassen und festhalten, dass dieser Konkurrenzjoghurt 20 Prozent weniger klimaschädlich und sein echter Preis 1,45 Euro sei. Er kostet mit 0,79 Euro im falschen Preis mehr als das doppelte des schuldigen Joghurts. Anstatt sich für eine Joghurt zu entscheiden oder überhaupt keinen mehr zu kaufen, überlässt der Käufer seine Entscheidung der Aufwandserhöhungs-App, die er auf seinem Smartphone installiert hat. Jetzt hat er sich wieder entmündigt, gegen die Nachhaltigkeit. Seine Smartness hat er an das Produkt abgegeben, das seine Entscheidungsparameter objektiviert.
„Damit gibt man zugleich die Kontrolle über seine Entscheidungen an Geräte ab und verzichtet so auf die Freiheit des Denkens. Kant, Descartes und die Aufklärung können nicht smart sein. Nur klug“.
Wir sind weiter Subjekte der Unterhaltungsindustrie und wollen auf die Formel 1 Fahrten im Automobilsport nicht verzichten. Am 22. April 2012 drehen gut ausgebildete junge Erwachsene u.a. auch Sebastian Vettel mit seinem „Red Bull“ auf einer Rennstrecke in der Wüste ihre Runden für die Fernsehzuschauer der Welt, während gut ausgebildete junge Erwachsene von der Polizei verprügelt wurden. Das alles geschah in Bahrain, während der Arabellion. Die einen lieferten höchstbezahlt ein Konsumangebot für Fernsehzuschauer, die anderen kämpften für ihre Chance auf Freiheit und Arbeit. Der Löwenanteil der mehr als eine Milliarde Dollar kommt aus den Senderechten an das Rennen. Immerhin sitzen sechs Mio deutsche vor dem Fernsehen, wenn Vettel in Bahrain seine Runden dreht.
Das Buch mündet in eine schöne Abfolge von positiven Vorbilds-Geschichten, die alle überschrieben sind: „Denkt selbst“. Die Sladeks – zum Beispiel – denken selbst, sie ist eine Grundschullehrerin und er ein Arzt, die die Gemeinde Schönau so umgekrempelt haben, dass sie ein Stromversorgungsunternehmen für mehr als 100.000 Kunden geschaffen haben, das nur mit Strom aus erneuerbaren Quellen versorgt. Die GLS sei eine Genossenschaftsbank in der Nachfolge von Friedrich Raiffeisen und Schulze Delitzsch.
Zur Zeit finanziere sie etwa 18.000 Projekte von der ökologischen Landwirtschaft bis zu Behinderteneinrichtungen. Sie sei ein Beleg dafür, dass man mit der richtigen Haltung sogar im falschen System vernünftig wirtschaften kann. Die Riminigruppe denkt auch selbst. Diese Theatergruppe erklärte die komplette Hauptversammlung von Daimler AG 2009 zu einem Theaterstück, man vergab Aktien an 150 Zuschauer, die damit ein Zutrittsrecht hatten und zwangen das Vorstandsmitglied der Daimler AG, Klaus Bischoff zu der versichernden Beschwörung, es handle sich bei der Hauptversammlung NICHT um ein Schauspiel. Ein Buch, das uns zum Selbst Denken anregen wird.
Quelle
Rupert Neudeck 2013Grünhelme 2013