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Zwei Pioniere des Genossenschaftswesens

Mehr Neben- als Miteinander: Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Wenn man diese Doppelbiographie gelesen hat zu den beiden Pionieren des Genossenschaftswesens, weiß man, dass die Gegensätzlichkeiten und Unterschieden wesentlich größer sind als die Gemeinsamkeiten. Von Rupert Neudeck

Nach der Lektüre kann man festhalten. Beide, der liberale großstädtische Preußische Nationalversammlungsabgeordnete mit dem schönen Doppelnamen Hermann Schulze – Delitzsch und der Pastorensohn und Bürgermeister einer kleinen Gemeinde (Flamersfeld) im Westerwald, Friedrich Wilhelm Raiffeisen sind Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, die komplementär gearbeitet haben. Schulze-Delitzsch war ein leidenschaftlicher Pionier der Grundrechte einer parlamentarischen Demokratie. Als der deutsche Bundestag dem preußischen König die Kaiserwürde des Deutschen Bundes unter der Bedingung verleihen will, dass der König die Verfassung des Bundestages anerkenne und als der König erst mal seinen Adel fragen will, ist Schulze-Delitzsch empört: „Woher haben die deutschen Fürsten die Souveränität, vermöge dessen sie das Recht beanspruchen, dass das, was das deutsche Volk in seiner Ganzheit durch seine Vertreter beschlossen hat, erst noch besonders von einem jedem von ihnen zu sanktionieren sei?“

1859 wird die Einrichtung eines „Zentralen Korrespondenzbüros für die Vorschuss und Kreditvereine“ beschlossen. 1864 wird das Büro umständlich umbenannt in „Verband der auf Selbsthilfe beruhenden Deutschen Erwerbs und Wirtschaftsgenossenschaft“. Es kommt zu einer fast polit-idealtypischen Kontroverse zwischen dem Schriftsteller und Politiker Ferdinand Lassalle und dem Liberalen der deutschen Fortschrittspartei Schulze-Delitzsch. Lassalle spricht auch von Genossenschaften, versteht darunter aber enteignete Fabriken im Besitz der Arbeiter, die deren Gewinne sozialisieren, die auch allen Beteiligten zugute kommen sollen. Dazu jedoch bräuchten sie finanzielle Hilfe vom Staat, in Form von Darlehen. Dagegen bäumt sich der urliberale Schulze- Delitzsch auf: „Bei uns lernt Ihr Sozialisten“, meint er zu Lassalle. „Eine unvernünftige Forderung der Staatshilfe bedeutet nichts anderes, als anderen in die Tasche zu greifen, um nicht nötig zu haben, für die eigene Sache sich selber Bedingungen des erwerbenden Lebens des Emporkommens im wirtschaftlichen Leben zu verschaffen“.

Raiffeisen war der wohl bedeutendere für die Entwicklung des Genossenschafts- und Mikrokreditwesens. Allein schon, weil er aus ärmlichen Verhältnissen kam. Damals wie heute hatten Kredithaie ein leichtes Spiel. Sie sind Wucherer und gewähren Kredite zu Wucherzinsen. Sobald der Bauer dann die Raten nicht mehr zurückzahlen kann, ist er sein Land und dann auch seinen Hof los. Raiffeisen will die Verhältnisse verbessern, eindrucksvoll, aber ohne Ideologie. Er will die Verhältnisse Stück für Stück verbessern. Warum sind die Leute so arm?, fragt er sich und gibt eine Antwort, die auf seinen christlichen Hintergrund zurückgeht. „Weil sie die Sahne verderben lassen. Silberne Löffel werden zum Auskratzen der Kessel genommen. Das gebrauchte Tischzeug wird an Orte geworden, wo die Mäuse daran nagen können. Die Kleider hängen in der Sonne, bis sie der Wind zerreißt“.

Armut sei keine Schande, aber wird jemand auf diese Weise arm, sollte der sich nicht schämen. 1848 – im Revolutionsjahr – gründet er mit Unterstützung reicher Bürger den „Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“. Hilfe ist damals hochdeutsch „Hülfe“. Dieser Verein erwirbt Kühe, gibt sie an arme Bauern, die können mit der Milch Geld erwirtschaften und innerhalb von fünf Jahren die Kuh abbezahlen. Das ist der Vorläufer zum System Mikrokredit. Dann beginnt er nach seiner Pensionierung 1964 den Heddesdorfer Darlehenskassenverein zu gründen. Raiffeisen will den Alltag der Menschen erleichtern, gleichzeitig schwebt ihm eine sittliche Erneuerung der Menschen vor. Manche haben das als reaktionär gesehen, aber es ist wohl die religiös- gläubige Version des Mikrokreditvereins. Wie man sich Mohammed Yunus nicht vorstellen kann, ohne dass man weiss, dass er Muslim ist, so kann man sich Raiffeisen nicht vorstellen ohne den christlichen Glauben.

Raiffeisen ist kein Systemveränderer. Zwischen 1866 und 1888 hat er viele Kämpfe ausgefochten, auch mit seinem Rivalen Hermann Schulze Delitzsch. Raiffeisen meint, die Kirchen und die Christen dürfen in der sozialen Frage nicht schwiegen. Sie müssen Partei ergreifen, Damit steht Raiffeisen in einer guten Tradition, die durch große Namen damals gekennzeichnet sind. So den Arbeiterbischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler, den Handwerker-Förderer Adolf Kolping auf katholischer Seite, dazu Friedrich von Bodelschwingh und Friedrich Naumann auf evangelischer. Es gelingt Raiffeisen, die Vereine so zusammenzuhalten, dass keiner Insolvent anmelden muss. Das Grundprinzip: Es sollen weniger Gewinne gemacht werden, vielmehr sollen die wirtschaftlich Schwachen gestärkt werden.

Das ist noch nicht das Buch, das diese beiden Pioniere auch ins Licht unserer bedrängten sozialen und gesellschaftlichen stellt. Immerhin erfahren wir das jetzt über die USA aus Afrika von der glänzenden Analytikerin Dambisa Moyo, einer Bankerin. Moyo ist in Sambia großgeworden und war dann an berühmte Banken in den USA tätig. Ihr Ruf als wirtschaftliche Pionierin ist weit in afrikanische Länder gegangen. Sie hat an einer Stelle ihres großen ersten Buches „Dead Aid“ auf die beiden deutschen Pioniere der Mikrokreditbewegung hingewiesen. In dem großen Pamphlet, das sich wie ein Fanfarenstoß liest, „Dead Aid“ der sambischen Autorin stehen diese ehernen Sätze: Lange vor der Grameen Bank hätten Leute wie Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen mit ihren Genossenschaften den Grundstein für dieses wunderbare Mittel zur Bekämpfung der Armut gelegt.

Quelle

Rupert Neudeck 2014Grünhelme 2014

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