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Martin Fellendorf | Universität Ulm | Goldschrecke auf einer Untersuchungsfläche auf der Schwäbischen Alb Beschreibung (Caption): Insektenarten, wie diese Kleine Goldschrecke (Chrysochraon dispar), sind in ihren Beständen zurückgegangen.

© Martin Fellendorf | Universität Ulm | Goldschrecke auf einer Untersuchungsfläche auf der Schwäbischen Alb Beschreibung (Caption): Insektenarten, wie diese Kleine Goldschrecke (Chrysochraon dispar), sind in ihren Beständen zurückgegangen.

Insektenrückgang weitreichender als vermutet

Ursachen für Insektensterben und Artenschwund sind auf Landschaftsebene zu finden. Vom Artenschwund betroffen sind vor allem Wiesen, die sich in einer stark landwirtschaftlich genutzten Umgebung befinden – aber auch Wald- und Schutzgebiete.

Dass es auf deutschen Wiesen weniger zirpt, summt, kreucht und fleucht als noch vor 25 Jahren, haben bereits mehrere Studien gezeigt. „Bisherige Studien konzentrierten sich aber entweder ausschließlich auf die Biomasse, also das Gesamtgewicht aller Insekten, oder auf einzelne Arten oder Artengruppen. Dass tatsächlich ein Großteil aller Insektengruppen betroffen ist, war bisher nicht klar“, sagt Dr. Sebastian Seibold, Forscher am Lehrstuhl für Terrestrische Ökologie der TUM.

Im Rahmen einer breit angelegten Biodiversitätsstudie hat nun ein Forschungsteam unter der Leitung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der TUM zwischen 2008 und 2017 eine Vielzahl von Insektengruppen in Brandenburg, Thüringen und Baden-Württemberg erfasst. Die Auswertung der Studienergebnisse stellt das Team nun in der Fachzeitschrift „Nature“ vor.

Insekten auf der Wiese und im Wald betroffen

Die Forscherinnen und Forscher haben auf 300 Flächen über eine Million Insekten gesammelt und konnten so nachweisen, dass viele der fast 2.700 untersuchten Arten rückläufig sind. Einige seltenere Arten wurden in den letzten Jahren in manchen der beobachteten Regionen gar nicht mehr gefunden. Sowohl auf den Waldflächen als auch auf den Wiesen zählten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach zehn Jahren etwa ein Drittel weniger Insektenarten.

„Bisher war nicht klar, ob und wie stark auch der Wald vom Insektenrückgang berührt ist“, sagt Seibold. Das Team stellte fest, dass die Biomasse der Insekten in den untersuchten Wäldern seit 2008 um etwa 40 Prozent zurückgegangen war. Im Grünland waren die Ergebnisse noch alarmierender: Am Ende des Untersuchungszeitraums hatte sich die Insektenbiomasse auf nur ein Drittel ihres früheren Niveaus verringert.

„Dass solch ein Rückgang über nur ein Jahrzehnt festgestellt werden kann, haben wir nicht erwartet – das ist erschreckend, passt aber in das Bild, das immer mehr Studien zeichnen“, sagt Wolfgang Weisser, Professor für Terrestrische Ökologie an der TUM und einer der Initiatoren des Verbundprojekts.

Die Umgebung gibt den Ausschlag

Betroffen sind alle untersuchten Wald- und Wiesenflächen: Schafweiden, Wiesen, die drei bis viermal jährlich gemäht und gedüngt wurden, forstwirtschaftlich geprägte Nadelwälder und sogar ungenutzte Wälder in Schutzgebieten. Den größten Schwund stellten die Forscherinnen und Forscher auf den Grünlandflächen fest, die in besonderem Maße von Ackerland umgeben sind. Dort litten vor allem die Arten, die nicht in der Lage sind, große Distanzen zu überwinden.

Im Wald hingegen schwanden vorwiegend jene Insektengruppen, die weitere Strecken zurücklegen. „Ob mobilere Arten aus dem Wald während ihrer Ausbreitung stärker mit der Landwirtschaft in Kontakt kommen oder ob die Ursachen doch auch mit den Lebensbedingungen in den Wäldern zusammenhängen, müssen wir noch herausfinden“, sagt der ehemalige TUM-Mitarbeiter Dr. Martin Gossner.

Einzelinitiativen haben wenig Aussicht auf Erfolg

„Aktuelle Initiativen gegen den Insektenrückgang kümmern sich viel zu sehr um die Bewirtschaftung einzelner Flächen und agieren weitestgehend unabhängig voneinander“, sagt Seibold. „Um den Rückgang aufzuhalten, benötigen wir ausgehend von unseren Ergebnissen eine stärkere Abstimmung und Koordination auf regionaler und nationaler Ebene.“

  • Dr. Martin Gossner hatte in diesem Rahmen bereits 2016 eine wichtige Entdeckung gemacht, die ebenfalls in „Nature“ veröffentlicht wurde: Intensivierte Landwirtschaft führt dazu, dass es überall die gleichen Arten gibt – mehr

  • Seibold, S., Gossner, M.M., Simons, N.K., Blüthgen, N., Müller, J., Ambarli, D., Ammer, C., Bauhus, J., Fischer, M., Habel, J.C., Linsenmair, K.E., Nauss, T., Penone, C., Prati, D., Schall, P., Schulze, E.-D., Vogt, J., Wöllauer, S. und Weisser, W.W. „Arthropod decline in grasslands and forests is associated with drivers at landscape level“ | Nature, 30.10.2019 – DOI: 10.1038/s41586-019-1684-3

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Greenpeade: „Die Ergebnisse dieser umfassenden Studie sind alarmierend. Die Tiere verschwinden massenhaft aus unseren Wäldern. Das ist die Folge einer Agrar- und Waldpolitik, die seit Jahrzehnten wirtschaftliche Interessen vor den Natur- und Artenschutz stellt. Wir fordern Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner auf, sich endlich zu einem wirkungsvollen Waldschutz zu bekennen, der die Wälder als wertvolle Ökosysteme und unverzichtbare Klimaregler erhält. Das kann nur mit einer naturnahen Waldwirtschaft gelingen – mit mehr Schutzgebieten, dem Erhalt wichtiger Lebensräume in Totholz und alten Bäumen, weniger Holzeinschlag und dem Verzicht auf Insektengifte.

Die Warnung aus der Wissenschaft sollte auch von den Agrarpolitikerinnen und -politikern gehört werden, die an der Reform der EU-Förderpolitik für die Landwirtwirtschaft arbeiten. Wir können es uns nicht länger leisten, eine Agarindustrie mit Milliarden zu subventionieren, die mit dem großflächigen Einsatz von Pestiziden unsere Lebensgrundlagen zerstört. Die Fördermittel müssen gezielt einsetzt werden, um den Umbau zu einer nachhaltigen Landwirtschaft voranzutreiben, die zum Schutz von Arten und Klima beiträgt.“

Dr. Stefan Seibold / TUM | Die Beerenwanze (Dolycoris baccarum) ist eine der weniger Arten, die bisher kaum zurueck gegangen sind. Andere Arten sind im untersuchten Zeitraum auf einzelnen Flaechen schon ganz verschwunden.Dr. Ulrike Garbe / Landesamt für Umwelt, Brandenburg | Wiese, Untersuchungsfläche in der Schorfheide - Vom Artenschwund betroffen sind vor allem Wiesen in der Nähe zu stark landwirtschaftlich genutzten Flächen.
Quelle

Technische Universität München 2019

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