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Den Eisbären schmilzt das Eis unter den Pfoten weg

„Die Jahre werden vergehen, neue Zeiten werden anbrechen und andere Reiseziele bringen, aber solange Menschen geboren werden und sterben, wird die Saga, die in die unfruchtbaren Felsengestade dieses Landes eingegraben ist, mit dem tiefen Ernst der gewaltigen Einöde zu uns sprechen.“ Dies schrieb der große Grönland-Forscher, Ethnologe und Eskimologe Knud Rasmussen vor etwa 100 Jahren in sein Tagebuch. Grönlands weiße und wilde Natur fasziniert auch heute noch in der sich globalisierenden Welt des Massentourismus jeden Besucher.

Grönlands weiße und wilde Natur fasziniert auch heute noch in der sich globalisierenden Welt des Massentourismus jeden Besucher. Rasmussen wurde durch seine Thule-Expeditionen zu den Eskimos zum Volkshelden Grönlands. Der  Abenteurer hat die Eskimostämme und Eskimokultur erforscht wie kein zweiter. Halb Däne und halb Grönländer hat er die zahlreichen Sagen und Mythen über die Eskimos gesammelt und aufgeschrieben.

Im Juli 2011 waren meine Frau und ich auf Grönland und Island in der Arktis und ein Jahr zuvor in der Antarktis. Wir wollten auf einem Expeditionsschiff zusammen mit Wissenschaftlern den Klimawandel studieren.

Grönland ist die größte Insel der Welt, fünfmal so groß wie Deutschland, aber hat nur etwa so viele Einwohner wie Baden-Baden. Grönland, das sind großartige arktische Landschaften, Fjorde mit blau-weißen  und türkisfarbenen Eisbergen, kristallklares Wasser,  vielfarbige Eskimosiedlungen und wahrscheinlich mehr Schlittenhunden als Menschen. Aber Grönland – Grünland hatte Erik der Rote aus Island die Insel vor 1000 Jahren getauft – bietet auch für jeden mit offenen Augen den stärksten Anschauungsunterricht für die größte Bedrohung der menschlichen Spezies: den Klimawandel.

Das angeblich grüne Land ist nur an seinen Küsten grün – und auch das nur während der vier Sommermonate.  85 % der Insel sind vom noch „ewigen Eis“ bedeckt. Grönlands Eiskappe ist 2.000 Kilometer lang, 1.000 Kilometer breit und bis zu dreitausend Meter dick. Wir erleben Grönlands weiße Unendlichkeit. Wer vor einem Eisberg oder Gletscher steht, dem ist als ob er an einem weißen und stillen heiligen Tempel Halt gemacht hätte. Der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen nannte das ewige Eis jenen Ort „wo der Geist der Natur auf glitzernden Silberstrahlen durch den Raum schwebt und die Seele niederfallen und anbeten muss – die Unendlichkeit des Weltalls anbeten muss.“

Während ich diese Zeilen schreibe – Ende Juli 2012 – erreicht mich folgende Meldung: „Grönland taut an. Fast die gesamte Oberfläche des grönländischen Eisschildes ist im Juli zumindest angetaut. Das teilt die NASA mit. Das Ausmaß ist größer als in den allen zurückliegenden Jahren. In einem durchschnittlichen Sommer schmilzt das Eis Grönlands natürlicherweise auf der Hälfte der Oberfläche, doch jetzt innerhalb von vier Tagen auf 97%.“

Noch nie seit Beginn der Klimaaufzeichnungen ist das Meereis im hohen Norden so dramatisch zurückgegangen wie im Sommer 2012. Von ähnlichen Beobachtungen haben uns Forscher schon 2010 in der Antarktis berichtet.  Das Schmelzen des Eises gilt als der wichtigste Indikator für das Fortschreiten des Klimawandels. Wird Grönland grün?

Wissenschaftler führen das extreme Antauen des Grönlandeises im diesem Sommer auf eine ungewöhnlich warme Luftschicht zurück. Die NASA spricht gar von einer Hitzeglocke.

In der Arktis und Antarktis wird es immer wärmer. Wir haben 2011 zwei Tage im Juli erlebt, an denen es in Grönland wärmer war als in Deutschland.  Die letzten Sommer nehmen Grönland immer mehr in den Schwitzkasten.

Die gesamte Nordost-Schifffahrtsroute zwischen Grönland und Ostasien ist jetzt im Sommer erstmals ohne Eisbrecher befahrbar. Das gleiche gilt für die Nordwest-Passage zwischen Grönland, Alaska und Kanada. Im letzten Bericht des UN-Klimarats (IPCC) im Jahr 2006 war diese Situation für das Jahr 2070 erwartet worden.

Der Meeresspiegel könnte nicht nur um 60 Zentimeter bis zum Ende unseres Jahrhunderts ansteigen wie im letzten IPCC-Bericht angenommen, sondern um einen bis fünf Meter. Schon bei einem Anstieg um einen Meter wären bis zu 150 Millionen Menschen betroffen, die dann keinen Boden mehr unter ihren Füßen hätten und fliehen müssten. Hauptsächlich Menschen in Millionenstädten an den Küsten rund um den Globus: zum Beispiel In Shanghai und Hongkonk, in Calcutta und Bombay, in Kairo und Alexandria, in Rio und in Buenos Aires oder in Ländern wie Bangladesch.

Grönland: weißer Schnee – weiß-blaue Eisberge – kahl-schwarze Bergkuppen. In die 1.8 Millionen Quadratkilometer große Insel könnte Deutschland fünfmal hineinpassen und die Zugspitze würde darin verschwinden. Doch das einzigartige Naturparadies in Weiß scheint dem Untergang geweiht. Unsere Wissenschaftler diskutierten schon vor einem Jahr nicht mehr die Frage, ob das Eis verschwindet, sondern nur noch die Frage, wann das sein wird. 20 Kilometer schrumpfte der Ilulissat-Gletscher in  letzten 10.000 Jahren vor 1850. Allein in den letzten acht Jahren schmolz das Eis um 12 Kilometer.  Das Gebiet, das von der Eisschmelze betroffen ist, wächst permanent. Beim Flug lassen wir uns zeigen wie der Gletscher noch vor 100 Jahren fast den gesamten Fjord bedeckte. Doch heute ist der Fjord voller Eisberge, die vom Gletscher abgebrochen sind. „Die Gletscher kalben“, nennen die Wissenschaftler das Phänomen. Der ganze Fjord ist voller „Kälber“.

Schließlich stehen wir am Rande der Abbruchkante des Gletschers. Es „ kalbt“ und kracht und poltert hier pausenlos. Auf acht Kilometer Länge „kalbt“ der Gletscher täglich mehr Eis in den Fjord wie in den Alpen alle Gletscher in einem Jahr zusammen.

Während wir hier die vielfältigen Farben und Formen der Eisberge bewundern, fragen wir uns wie gewaltig sie erst unter Wasser sein müssen. Denn bis zu 90 % eines Eisbergs ist unsichtbar.

Auf einer Karte haben die Wissenschaftler die Eisschmelze des Gletschers seit 1850 dokumentiert. Wir erschrecken über das zunehmende Tempo. So dramatisch hatten wir uns den Klimawandel nicht vorgestellt. In meinen weltweiten Vorträgen zu diesem Thema und zu den Erneuerbaren Energien gibt es immer noch gelegentlich Zweifel am Klimawandel. Ich werde künftig diese Bilder zeigen und die Skeptiker fragen: „Warum schmilzt in Grönland das Eis, wenn es keinen Klimawandel gibt?“

Der renommierte Klimaforscher Mojib Latif, Professor für Meteorologie an der Universität Kiel, hat 2011 kurz nach uns die Arktis-Region besucht. Er sagt: „Globale Erwärmung, schmelzende Gletscher, ansteigender Meeresspiegel. Es besteht kein Zweifel mehr: Der Klimawandel ist in vollem Gange und der Mensch hat in zunehmendem Maße Anteil daran.“ Die Klimaforscher am Potsdam-Institut für Klimafolgen-Forschung kommen zum selben Ergebnis.

Wenn das „ewige Eis“ schmilzt, schwindet auch der Lebensraum für viele grönländische Tier- und Pflanzenarten und für die Grönländer.

Den Eisbären schmilzt das Eis unter den Pfoten weg. Sie sitzen buchstäblich in der Klimafalle. Durch die Erwärmung der Arktis verkürzt sich die Jagdperiode der weißen Riesen, denn das Eis taut immer früher. Weniger Eis heißt aber weniger Robben. Sie sind das Futter für die Eisbären. Schon heute verhungert jedes zweite Jungtier. Robben benötigen das Eis im Meer als Rastplatz und als Kinderstube für ihre Jungen. Dort verharren sie, um schwimmen zu lernen und um sich selbständig von Fischen zu ernähren. Doch bei immer weniger Packeis ertrinken auch viele Jungrobben. Mehrmals während unserer Reise hören wir, dass Eisbären bereits  in die Dörfer Grönlands eindringen und aus Hunger Menschen töten und auffressen.

Auch vielen Fischarten wird es in Süd- und Mittelgrönland bereits zu warm. Sie ziehen in den hohen und kälteren Norden. Es ist ein Teufelskreis: Weniger Fische, weniger Nahrung für die Robben – weniger Robben, weniger Nahrung für die Bären. Und je weniger Bären und Robben, desto weniger Ur-Nahrung, also Fleisch, für die Grönländer. Wir waren in Mittelgrönland Tage lang unterwegs, ohne ein einzige Robbe zu sehen. Viele Robbenfänger und Eisbär-Jäger haben schon aufgegeben.

Für die Ur-Einwohner Grönlands, die Inuits und Eskimos, ist der Klimawandel eine ähnliche Katastrophe wie für Millionen afrikanischer Klimaflüchtlinge. Das Jagen und Fischen war jahrtausendlang der Lebensmittelpunkt der Eskimos, der jetzt zerstört wird.

Das soziale und kulturelle Gefüge einer ganzen Gemeinschaft droht zu zerbrechen. Nirgendwo auf der Welt ist der Klimawandel so deutlich zu sehen und zu spüren wie in den Eisregionen unseres Planeten. Das ist das Fazit unserer Reisen.

Quelle

Eine Reportage von Franz Alt (Text) und Bigi Alt (Fotos) 2012

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