„Die meisten Flüchtlinge kommen gar nicht“
Drei Prozent der Weltbevölkerung seien auf der Flucht, der Anteil habe sich seit Jahrzehnten kaum verändert.
Mehr Menschen müssen heute wegen Klimaveränderungen und Extremwetterereignissen fliehen, doch offiziell werden sie immer noch Armutsflüchtlinge genannt.
Sophia Wirsching arbeitet beim Evangelischen Entwicklungsdienst Brot für die Welt in Berlin als Referentin für Migration und Entwicklung.
klimaretter.info:
Frau Wirsching, angesichts der anhaltenden Debatte um und der Übergriffe auf Flüchtlinge: Nehmen Flucht und Vertreibung zu?
Sophia Wirsching: Schon seit Jahrzehnten liegt der Anteil der Migranten an der Weltbevölkerung konstant bei ungefähr drei Prozent. Wir reden von Migranten – oder Migrantinnen, denn die Hälfte von ihnen sind Frauen –, wenn sich die Menschen länger als ein Jahr nicht in ihrer Heimatregion aufhalten oder sich außerhalb ihrer Landesgrenzen befinden. Die absoluten Zahlen steigen aber, weil auch die Weltbevölkerung zunimmt. Durch die Krisen und Konflikte wächst die Zahl derjenigen, die vor Gewalt und Krieg in die Flucht gezwungen werden.
Welche Rolle spielt der Klimawandel bei der Migration?
Nichtregierungsorganisationen und Kirchen, mit denen wir zusammenarbeiten, bezeugen, dass aufgrund von Klimaänderungen ein Leben in den Heimatregionen oft nicht mehr möglich ist. Anpassung ist dann keine Option mehr, denn die Mittel, am Ort zu bleiben, fehlen, sind unerschwinglich oder es ist dauerhaft zu gefährlich.
Bei Extremwetterereignissen wie dem Wirbelsturm „Aila“ in Bangladesch oder dem Taifun „Haiyan“ auf den Philippinen werden Menschen sehr plötzlich entwurzelt, sie können aber oft auch mittelfristig zurückkehren. Das bezeichnen wir ebenso als Klimawandel-induzierte Migration wie zum Beispiel die Umsiedlung von Bewohnern der Inselatolle im Pazifik, die durch den Meeresspiegelanstieg dem Untergang geweiht sind.
Wer ist besonders von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen?
Der Klimawandel verstärkt bestehende Flucht- und Migrationsgründe. Gerade verwundbare Bevölkerungsgruppen leiden besonders unter Klimawandelveränderungen. Das sind die Ersten, die an Anpassungskapazität und Widerstandfähigkeit einbüßen und dann gezwungen sind zu gehen. Manche können aber gar nicht gehen, weil ihnen die Mittel dafür fehlen. Sie sind dann sozusagen intern Vertriebene oder Flüchtlinge im eigenen Land. Sie sind viel unsichtbarer, vor allem für globale Statistiken.
Lässt sich abschätzen, wie groß die Zahl der Klimawandelflüchtlinge ist?
Nein, das geht nicht. Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Menschen, die aufgrund von Klimaveränderungen migriert, teilweise deutlich zunehmen wird. Das ist aber von Region zu Region unterschiedlich. Selbst innerhalb von wenigen Kilometern gibt es zwischen Dörfern ganz unterschiedliche Anpassungskapazitäten, sei es, weil da eine Straße in der Nähe ist, oder weil da ein Bach fließt. Außerdem begreift sich ein Kleinbauer eher als Armutsflüchtling, wenn seine Tätigkeit als Bauer und dadurch die Einkommensquelle wegfällt.
Medien zeigen immer wieder Bilder von Booten voller Menschen, die von Afrika über das Mittelmeer nach Afrika kommen.
Migration gibt es überall, vor allem innerhalb eines Kontinents. Die meiste Migration findet regional statt. Wir sehen zum Beispiel sehr starke Migrationsbewegungen innerhalb von Südostasien. Und allein innerhalb Chinas gibt es ähnlich viele Migranten, wie es international gibt. In Afrika und Lateinamerika gibt es auch einige migrantische Gebiete. Die bilden sich dort, wo Handelszonen entstehen. Die Migration zwischen den Ländern Afrikas ist viel größer als die Zahl der Afrikaner, die nach Europa kommt. Auch wenn wir jetzt andere Bilder vor Augen haben, im Vergleich ist die Zahl wahnsinnig gering. Die meisten Flüchtlinge werden von afrikanischen Ländern aufgenommen.
Trotzdem herrscht dieses schiefe Bild hierzulande vor. Hat die Politik versagt? Und was muss sie tun?
Die Flüchtlings- und Migrationspolitik in der EU und in Deutschland sind an vielen Stellen verbesserungswürdig. Die Bundesregierung hat festgestellt, dass sich der Klimawandel auf die Migration auswirken wird, aber dass er nicht allein Migration verursacht, sondern ein Faktor unter vielen ist. Das rechtfertigt aber nicht, dass die Bundesregierung – abgesehen davon, dass sie die Nansen-Initiative stützt – zum Thema Klimawandelmigration keine sichtbare Position bezieht. Es würde der Regierung nicht schlecht anstehen, wenn sie einen Schutz für vom Klimawandel betroffene Menschen bieten würde. Flüchtlinge kommen sowieso nur sehr schlecht nach Deutschland wegen der bereits bestehenden Dublin-Regularien auf europäischer Ebene. Es ist ohnehin nicht zu erwarten, dass Deutschland viele Umwelt- oder Klimaflüchtlinge an seinen Grenzen aufnehmen muss.
Was fordern Sie noch von der Bundesregierung?
Das sind drei Punkte: Erstmal muss Deutschland anerkennen, dass seine hohen Treibhausgasemissionen zu schlechteren Lebensbedingen im Süden beitragen. Deshalb müssen Deutschland und die anderen Industriestaaten ihre Emissionen deutlich senken. Im Dezember soll in Paris das internationale Klimaabkommen verabschiedet werden, in dem erstmals Pflichten für alle Staaten enthalten sein werden. Von der Qualität dieses Abkommens wird es wesentlich abhängen, ob eine Begrenzung der globalen Erwärmung noch möglich sein wird.
Zweitens sollte sich die Bundesregierung noch stärker für die Anpassung an den Klimawandel engagieren und zugesagte Gelder und Know-how bereitstellen. Drittens – und das ist noch relativ neu – sollte die Bundesregierung auch die Schäden und Verluste in den Blick nehmen. Die Politik muss überlegen, wie sie mit den jetzt nicht mehr vermeidbaren Schäden durch den Klimawandel umgeht, wie Betroffene unterstützt und Menschenrechtsansprüche geltend gemacht werden können.
Interview: Sandra Kirchner