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Jetzt neu: ich bin ein Feindbild!

Rollentausch: wenn Bürgerinitiativen gegen Windmühlen kämpfen, gehöre ich plötzlich zum verhassten Establishment.

Think Globally, act locally! Ist bekanntlich ein hübsches Motto der Umwelt und Nachhaltigkeitsfreunde. Deshalb kümmere ich mich auch um die Politik in Maastricht, wo ich wohne.

Vor ein paar Tagen hatte ich ein besonderes Erlebnis lokaler Demokratie im Stadtrat. Der Ausschuss für Raumplanung war zusammengekommen, der über einen Standort von vier Windmühlen am Rande der Stadt zu entscheiden hat. Maastricht hat sich nämlich ein tolles Projekt vorgenommen: es sollen 70 Millionen Euro in ein erneuerbares Energiekraftwerk investiert werden mit Solar, Wind, Biomasse und Wasser. Kein Pipifax, sondern Strom für mehr als 25 000 Haushalte.

So weit, so wunderbar erneuerbar

Nun ging aber bisher alles schief, was schief gehen kann. Gegen die geplante Wasserkraft an der Maas haben die Fischfreunde geklagt und bekamen erst mal Recht. In der bereits erstellten Genehmigung waren die Fischverluste nicht genügend evaluiert. Die Photovoltaikpläne stocken, weil ein geplantes neues Stadtviertel wegen der Finanzkrise teils auf Eis liegt. Und gegen die Windräder gab es von Beginn an heftigen Protest der Leute, die am dichtesten dran wohnen. Letzte Woche war dann eine Art D-Day, ein Erörterungstermin im Stadtrat mit der Chance für Bürger, ihre Stimme hören zu lassen. Super! Gelebte Demokratie ist ja eine feine Sache.

Auf der Rednerliste hatten sich elf Bürger eingetragen. Zehn sprachen vor mir. Es waren die Gegner der Windmühlen, vereinigt in verschiedenen Nachbarschaftsinitiativen. Und die waren genauso drauf, wie früher meine Freunde in den Bürgerinitiativen, wenn es gegen Atom, Verkehrsprojekte oder sonstige Umweltschweinereien ging: Wut in ihren Augen, Schaum vor dem Mund. Im Saal waren heftige Vibrations unterwegs.

Kurz zusammengefasst: der Stadtrat versündigt sich wegen schnöder Investoreninteressen an der Gesundheit der Anwohner. Windkraftanlagen machen krank. Die Geräusche sind unerträglich, das Flackern katastrophal, dabei bringen sie nix. Nullkommanull. Viel zu teuer und unsinnig. Offshore sowieso viel besser. Alles nur Prestigesucht.

Eigentlich war es wie bei Stuttgart 21: eine echte Debatte über Fakten, mögliche Gesundheitseffekte und Geräuschpegel war nicht möglich. Meine Mitbürger misstrauen dem System zutiefst, auch wenn die Stadt argumentiert, alle gesetzlichen Vorlagen einzuhalten.

„Alle korrupt!“

Die gesetzlichen Lärmbestimmungen sowieso zu lax und die Angaben der potentiellen Betreiber geschönt. Der neunte eisenharte Windenergiegegner sprach von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Dänemark: tiefe Töne, sehr besorgniserregend. Ganz neutral betrachtet, fand ich das recht schlau gemacht.

Auch dieser unglaubliche Schrecken war gut vorgetragen. Nach der zehnten Bürgerin hatte sogar ich das Gefühl, diese Windmonster sind wesentlich gefährlicher als Atomkraftwerke, landschaftsvernichtender als Braunkohle und lärmender als jede Stadtautobahn.

Dann durfte ich sprechen. Als letzter. Als einziger Freund der Windmühlen. Und tatsächlich sagte ich Dinge, die Vertreter der korrumpierten Politik immer so daher reden. Sprach vom Verständnis der Sorgen und Ängste (!?). Aber auch vom Abwägen der Vor- und Nachteile (mhm). Von der großen Chance dieser Investition für die lokale Ökonomie und den Klimaschutz (uih!).

Sprach von echten Risiken: vom 35 Kilometer entfernten alten belgischen Atomkraftwerk, vom benachbarten Garzweiler und den zerstörten Braunkohle-Dörfern in NRW (schnief!). Und auch für mich selbst völlig unerwartet: ich sprach Betreiber und Stadt mein Vertrauen aus und betonte die Rechtmäßigkeit des Genehmigungsverfahrens.

Rechtmäßigkeit! Zu Recht wurde ich später von den Bürgerinitiativen als das angesprochen, was ich bin: „der Feind!“ Ein mieser korrumpierter Büttel der Macht.

Quelle

Martin Unfried 2012 | Ökosex 2012

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