„Kernschmelze schon durch Erdbeben“
Mycle Schneider, Berater für Energie- und Atompolitik, über den dreifachen Super-GAU in Fukushima, die Hilflosigkeit der Experten und die Legende vom bösen Tsunami. Interview: Armin Simon
Herr Schneider, die Katastrophe von Fukushima zieht sich seit mehr als vier Monaten hin. Ist ein Ende abzusehen?
Mycle Schneider: „Ende“ würde ja zunächst einmal heißen, dass sich die Situation stabilisiert, dass also keine Radioaktivität mehr abgegeben wird. Schon das ist nicht abzusehen.
Was ist in Fukushima tatsächlich passiert?
Sicher scheint nun, dass in drei der sechs Reaktoren des AKW Fukushima-Daiichi die Reaktorkerne zum großen Teil geschmolzen sind. Dass auch abgebrannte Brennelemente in den Abklingbecken beschädigt wurden. Und dass drei zum Teil undichte Becken mit ihrem hochradioaktiven Inhalt seit den Explosionen der Reaktorgebäude unter freiem Himmel liegen. Der Betreiber, TEPCO, räumt inzwischen ein, dass die drei Reaktorkerne sogar komplett geschmolzen und Druckbehälter durchbrochen sein könnten. Ob das alles wirklich so ist, wird sich erst herausstellen, wenn Kameras auch innerhalb der Druckbehälter eine Bestandsaufnahme machen können. Das kann noch Jahre dauern.
Erste Bilder gibt es aber auch aus Fukushima schon.
Man hat Roboter in die zerstörten Reaktorgebäude geschickt, ja. Sonderlich weit kamen sie nicht – alles voller Schutt. Kurioserweise hat das Roboterland Nr. 1 der Welt ja nie Roboter gebaut, die für einen solchen Einsatz ausgerüstet sind. Das gehört zu den klassischen Merkmalen der unerwarteten Katastrophe.
Was zeigen die Bilder der Roboter?
Dass dort große Schäden entstanden sind, die ganz offensichtlich auf das Erdbeben zurückzuführen sind. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt.
Warum?
Die Atomindustrie hat sich sofort nach dem 11. März öffentlich hingestellt und behauptet, es habe sich wieder einmal gezeigt, dass die Atomkraftwerke hervorragend funktionierten, denn sie hätten sich aufgrund der Erdstöße selbst schnellabgeschaltet. Und weil es nun mal mitten in Europa und in den meisten anderen Gegenden keine Tsunamis gebe, könne man die Situation in Fukushima hierher nicht übertragen. Das war eine ganz klare Propagandaposition der Reaktorbetreiber, und zwar weltweit.
Und die ist jetzt nicht mehr haltbar?
Sie war es noch nie. Seit es die Aufnahmen aus dem Innern der Reaktorgebäude gibt, ist sie es erst recht nicht mehr. Diese Schäden können kaum durch Tsunamis oder Wasserstoffexplosionen in den oberen Stockwerken entstanden sein.
Hat die Propaganda denn gefruchtet?
Selbst die Reaktorsicherheitskommission ist bei ihrer Sicherheitsüberprüfung der deutschen AKW davon ausgegangen, dass die Schäden in Fukushima durch den Tsunami verursacht wurden. Und sie hat auf dieser Annahme dann ihre Aussagen zu den deutschen AKW gemacht.
Auch die Kernschmelze in Fukushima war lange umstritten.
Die stand im Prinzip schon in der ersten Woche fest. Man hat große Mengen der Spaltprodukte Jod und Cäsium in der Umgebung des AKW gemessen. Damit war klar, dass die Brennelemente erheblich beschädigt sind.
Wieso dauerte es dann drei Monate, bis Regierung und Betreiber das offiziell einräumten?
Es gab offensichtlich den Willen, der Öffentlichkeit bestimmte Informationen nicht zur Verfügung zu stellen – und zwar vom ersten Tag an. Es sind Auseinandersetzungen zwischen Premierminister und Betreiber bekannt geworden, die eindeutig darauf hinweisen, dass TEPCO bestimmte Angaben bereits sehr früh hatte, aber nicht herausgeben wollte.
Warum?
Man hatte Angst vor Panik und vor der Reaktion der Öffentlichkeit.
Bundeskanzlerin Merkel – Physikerin und Ex-Ministerin für Reaktorsicherheit! – hat gesagt, erst durch die Bilder aus Fukushima sei ihr klar geworden, dass das sogenannte Restrisiko doch ein reales Risiko ist. War Fukushima so unvorstellbar?
Die Erdbebengefahr war also bekannt.
Ja. Und die Kombination aus Erdbeben und Tsunami ist besonders in dieser Region der Erde auch nichts Neues.
Waren einfach die Schutzmaßnahmen nicht ausreichend? Oder kann man AKW nicht wirklich gegen solche Einwirkungen schützen?
Schutzmaßnahmen, die über einen gewissen Grad hinausgehen, sind irgendwann nicht mehr zu finanzieren.
Japan ist ein technisch hoch entwickeltes Land, das seit Jahrzehnten auf Atomkraft setzt und zuletzt offiziell 54 Reaktoren in Betrieb hatte. War es gut vorbereitet auf eine solche Katastrophe?
Überhaupt nicht. Das Vertrauen in die Technologie war so groß, dass man sich einfach nicht vorstellen konnte, dass etwas versagt. Und dass die Techniker auf der ganzen Linie versagen. Die besten Erdbeben-Spezialisten sitzen in Japan – die haben alle versagt. Die Leute, die technische Anlagen für Erdbeben auslegen, haben versagt. Die Katastrophenschutz-Planer haben versagt. Und die Leute, die mit dem Unfall dann umgehen sollten, auch.
Wäre das hierzulande denn anders?
Das Vertrauen der Bevölkerung in die Atomtechnik ist in Deutschland wesentlich geringer. Aber das bedeutet keineswegs, dass man im Katastrophenfall besser vorbereitet wäre.
Woran machen Sie das Versagen nach dem Unfall fest?
Zum Beispiel hat die Einspeisung von Meerwasser in die Reaktorkerne viel zu spät begonnen – man hoffte anfangs noch, die Anlagen retten zu können; Salzwasser macht sie unbrauchbar. Dann dauerte sie viel zu lange an, so dass sich dicke Salzkrusten bildeten, die die Kühlung behindern. Ein anderes Beispiel: TEPCO verkündete Ende Mai, nun alle Arbeiter einzeln mit Dosimetern auszustatten. Das heißt ja im Umkehrschluss, dass das davor nicht der Fall war. Unter Strahlenschutzgesichtspunkten ist das Wahnsinn. Und die japanische Regierung hat nach dem Unfall einfach die Grenzwerte hochgesetzt – nicht nur für Arbeiter, sondern auch für Kinder, im letzteren Fall gar um das Zwanzigfache.
Immerhin haben die Evakuierungen schnell begonnen.
Aber man hat viel zu früh wieder aufgehört damit! Und man hätte vor allem Schwangere viel weiträumiger evakuieren müssen. Ein Fötus ist hundertmal strahlenempfindlicher als ein Erwachsener.
Tschernobyl ist gerade 25 Jahre her. Fukushima wirkte erstmal nicht so schlimm – ob Super-GAU oder nicht, wurde hierzulande wochenlang diskutiert.
Dabei ist die Situation in Fukushima nicht einmal mit Tschernobyl zu vergleichen. Dort ist ein Reaktor explodiert, die umstehenden Reaktoren wurden nicht wesentlich beschädigt. In Fukushima sind an vier Reaktoren erhebliche Schäden entstanden, und das mitten in einem Katastrophengebiet. Nur gab es keinen Graphitbrand, der die radioaktiven Stoffe kilometerweit nach oben trieb und über den ganzen Kontinent ausbreitete.
Es fehlte die Wolke.
Das zeigt die Begrenzung des menschlichen Gehirns: Man erwartet die Katastrophe immer nur so, wie sie das letzte Mal passiert ist. Im Übrigen gab es auch in Fukushima Detonationen, es gab mehrere Wasserstoffexplosionen. Und in Block 3 war es vielleicht sogar eine atomare Verpuffung: Die Ausbreitung der Druckwelle schien überhaupt nicht typisch für eine Wasserstoffexplosion. Die Strahlenmesswerte schnellten nach jeder Explosion in die Höhe. Es gab also schon so etwas wie radioaktive Wolken. Nur war der Kamineffekt in Fukushima erheblich geringer als das in Tschernobyl der Fall war.
Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht?
Eine gute Nachricht für die umliegenden Länder, aber eine schlechte für die Japaner.
Warum?
Weil die Radioaktivität – Modellrechnungen gehen von 20 bis 50 Prozent von Tschernobyl aus – auf einer viel kleineren Fläche mit einer viel höheren Bevölkerungsdichte runterkommt. Die Strahlenwerte um Fukushima gehen zum Teil auch weit über die um Tschernobyl hinaus. Die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt werden daher insgesamt vermutlich schlimmer sein.
Was bedeutet das für die Bevölkerung?
Da wird jetzt rumexperimentiert. Die Entscheidung der Behörden, Zehntausende von Schulkindern mit Dosimetern auszustatten, spricht doch für sich.
Schützen diese Dosimeter denn?
Natürlich nicht. Daran kann man nur ablesen, wie hoch die äußere Strahlenbelastung ist. Langfristig sind das größte Problem aber die kontaminierten Nahrungsmittel, über die radioaktive Substanzen in den Körper gelangen. Auch wenn ein Teil wieder ausgeschieden wird: Schäden richten sie trotzdem an. Andere Radioisotope bleiben im Körper. Und das alles kumuliert sich. Diese innere Strahlenbelastung wird von den Dosimetern gar nicht erfasst. Man müsste alle Nahrungsmittel auf Radioaktivität messen. Aber dafür fehlen die Labors.
Quelle
Interview: Armin Simon.ausgestrahlt-Rundbrief 13, Sommer 2011