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Russland ist Teil im „Gesamteuropäischen Haus“

Warum Brüssel und Berlin dringend eine neue Ostpolitik brauchen. Ein Kommentar von Georgios Zervas

Anschuldigungen hüben wie drüben, Säbelrasseln auf beiden Seiten. Der Westen droht Russland, Russland droht dem Westen. Russische Truppenkonzentration im Donbass, Nato-Übungen im Baltikum, Nordstream 2 noch immer nicht im Einsatz, ein von Russland gedungener Killer wird in Berlin überführt und verurteilt. Mittendrin die neue Bundesregierung: Bundeskanzler Olaf Scholz bekennt sich mantrahaft zum transatlantischen Bündnis, und Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht möchte den russischen Präsidenten Vladimir Putin persönlich „ins Visier“ nehmen, während dieser nach einem Videochat mit seinem Kollegen Xi Jinping ein „neues Modell der Zusammenarbeit“ mit der Volksrepublik China vorstellt. Die Kommentatoren sind sich einig: Das Verhältnis vom Westen zu Russland war lange nicht so angespannt wie heute. Die Temperatur ist so tief gesunken, dass es nicht mehr abwegig scheint, von einem neuen Kalten Krieg zu sprechen. Doch was das eigentlich bedeutet, wird nur selten reflektiert.

Europa auf dem Weg zur Marginalisierung

Dabei muss man kein Prophet sein, um vorauszusagen, wer der Verlierer bei alledem sein wird: Europa bzw. die Europäische Union. Und dabei ganz im Besonderen auch Deutschland. Schon jetzt ist Europa auf dem Weg zur Marginalisierung. Schon jetzt ist erkennbar, dass die große Politik ohne die EU im Dreieck zwischen Washington, Moskau und Peking verhandelt wird. Und auch das ist schon erkennbar: dass vor allem Europas Wirtschaft dabei Schaden nehmen wird, denn seit 1990 hat sie sich aus guten Gründen immer mehr nach Osten orientiert. Ihre Märkte beginnen bei den früheren Ostblockstaaten und reichen über Russland bis Shanghai. Deshalb sind die europäischen Interessen durchaus nicht deckungsgleich mit denen der Vereinigten Staaten. Und deshalb täten Europa und die Vereinigten Staaten gut daran, sich mit unterschiedlichen Akzenten, aber doch als starke Partner auf dem Parkett der Weltpolitik zu präsentieren.

Dafür braucht es nicht allein die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, Europas legitime Interessen – z. B. im Blick auf Nordstream 2 – anzuerkennen, sondern sehr viel mehr noch den Mut der Europäischen Union bzw. der Kommission, sich zu einer neuen Ostpolitik zu entschließen: einer Ostpolitik, die den geografischen Realitäten in Europa Rechnung trägt, die Russland als Teil Europas anerkennt und Moskaus Sicherheitsinteressen im Blick auf die Ukraine ernstnimmt. Denn so viel sollte allen Verantwortlichen in Brüssel und Berlin klar sein: Russland ist ein Teil Europas und nicht der Feind Europas. Friedenssicherung in Europa geht immer nur mit Russland, niemals aber gegen Russland! Und schon gar nicht durch Drohgebärden seitens der NATO.

„Weltinnenpolitik“ im „Gesamteuropäischen Haus“

Wir waren schon einmal auf diesem Wege sehr weit gekommen. Als Michail Gorbatschow 1985 in seinem Land mit dem Projekt der Perestroika begann, sprach er als eines seiner Kernziele von Anfang an (3.10.1985) die „Überwindung der Spaltung Europas in einander gegenüberstehenden Gruppierungen in mehr oder weniger überschaubarer Zukunft“ an.

Gemeinsam mit seinem engsten Berater Vadim Sagladin arbeitete er an dem Konzept eines „Gesamteuropäischen Hauses“, das er bei einer Rede am 11.7.1988 so umriss: „Der Dialog und nicht gegenseitige Anschuldigungen, das Streben, die Interessen und Argumente der anderen Seite zu verstehen, und nicht ihr böse Absichten zuzuschreiben – so begreifen wir die zivilisierten Beziehungen zwischen den Staaten. Davon gingen wir aus, als wir die Konzeption des Gesamteuropäischen Hauses für die allgemeine Erörterung unterbreiteten.“ Für Gorbatschow war die EU ein einzigartiges historisches Vorbild für das, was er unter „neuem Denken“ im transnationalen Zusammenwirken und im Sinne seines Konzepts eines „Gesamteuropäischen Hauses“ verstand. Ein so gearteter „Fortschritt Europas würde es ihm ermöglichen, zum Fortschritt der ganzen übrigen Welt einen noch größeren Beitrag zu leisten“. Und: „Ohne Europa, das über einmalige Erfahrungen – historische, intellektuelle, diplomatische und politische – verfügt, kann ich mir die erfolgreiche Lösung der internationalen Probleme nicht denken.“ (2.6.1988)

Anfang 1989 griff Hans-Dietrich Genscher dieses Denken auf, als er beim Weltwirtschaftsforum in Davos erstmals von „Weltinnenpolitik“ sprach und diesen Begriff dann bei seiner Rede im selben Jahr vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in den Mittelpunkt rückte.

Ohne dieses konvergierende Denken und das darauf aufbauende Vertrauen und Handeln wäre weder die deutsche Einheit möglich geworden noch der friedliche Übergang ehemaliger Sowjetrepubliken zur Unabhängigkeit. Diese haben ihren Status nicht zum geringen Teil dem Denken und der Perspektive der Gorbatschow-Regierung für ein „Gesamteuropäisches Haus“ zu verdanken sowie der passenden Resonanz darauf von Hans-Dietrich Genscher mit dem Konzept einer „Welinnenpolitik“.

Vertrauensbildung statt Drohkulissen

Wollen wir wirklich das uralte, stets zerstörerische Muster wiederholen: Angst soll durch potenzielle Zerstörungsmacht in Schach gehalten werden. Gegenseitiges Machtgehabe und Muskelspielen soll der jeweils anderen Seite noch mehr Angst machen. Haben wir davon nicht genug gesehen? Ist dies nicht ein flächenbrandgefährliches Spiel mit dem Feuer? Haben wir vergessen, welch unermessliches Leid eine solch präpubertäre „Politik“ über unzählige Generationen vor uns gebracht hat? Darf, oder besser: muss Politik im 21. Jahrhundert nicht endlich erwachsen werden?

© privat | Georgios Zervas

Angst mag aktuell und rational unbegründet sein, aber sie kann historisch und kollektivpsychologisch verständlich sein. Dann gilt es, sie zu erkennen und mitfühlend anzuerkennen. Dann braucht es Heilung in Form von Vertrauensbildung durch vertrauenswürdiges Verhalten und kontinuierliche, ehrliche, authentische Kommunikation in einem partnerschaftlichen Win-Win-Geist, der auf die Interessen aller betroffenen Parteien konstruktiv und kreativ eingeht. Kommunikation zwischen wem? Zwischen denjenigen, die für das Wohl und Weh von Millionen von Mitmenschen Verantwortung tragen, egal, auf welcher Seite sie sich als Verhandlungspartner befinden. Solches Gewinn-Gewinn-Verhandeln auf der Grundlage wachsenden wechselseitigen Vertrauens ist keine schöngeistige Utopie. Es existiert, ist erforscht und hat sich tausendfach bewährt. Jetzt in und für Europa ist es im wörtlichen Sinne not-wendig.

Frankreich und Deutschland, die beiden Länder, durch deren Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt erst die Entstehung der Europäischen Union möglich geworden ist, könnten in der Zeit der französischen Ratspräsidentschaft im 1. Halbjahr 2022 die Initiative ergreifen für eine offensive neue Ostpolitik im Sinne der Ideen vom „Gesamteuropäischen Haus“ und einer „Weltinnenpolitik“. Es gibt viel zu tun. Es nicht anzupacken ist keine Option.

Quelle

Georgios Zervas 2022 – selbstständiger Unternehmensberater, Geschäftsführer der IMS Consulting GmbH&Co KG in Stuttgart und Mitglied im Senate of Economy Europe.

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